09.08.2022 | Redaktion | IAB

Setzt sich die Krise fort?

Expertinnen und Experten diskutierten die Situation der Berufsausbildung

Auch im dritten Jahr der Corona-Pandemie setzen sich die Probleme der betrieblichen Berufsausbildung fort. Das Angebot an Ausbildungsstellen nimmt ab, immer weniger junge Menschen entscheiden sich für eine berufliche Ausbildung. Das Ausbildungsplatzangebot liegt weiter deutlich unterhalb des Vorkrisenniveaus. Das bestätigt die aktuelle Halbjahresbilanz der Bundesagentur für Arbeit. Wie kann es gelingen, wieder mehr junge Leute für Ausbildungsberufe zu gewinnen? Darüber sprachen Expertinnen und Experten bei einer Online-Veranstaltung.

Bild: pornchai/Adobe Stock

Beim Webinar der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beschrieben Andreas Schleicher (OECD) und Bernd Fitzenberger (IAB) in kurzen Impulsvorträgen die aktuelle Situation.  Im Anschluss diskutierten Friedrich Hubert Esser vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Sven Nobereit vom Verband der Wirtschaft Thüringens (VWT) und Petra Reinbold-Knape von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) über die Zukunft der betrieblichen Berufsausbildung.

"Wir sollten nicht darüber reden, ob die Pandemie sich im dritten Jahr fortsetzt, sondern wie wir die Chancen, die sich entwickeln, nutzen können", hob Andreas Schleicher hervor. Dafür brauche es flexible und resiliente Ausbildungen, die verstärkt auf moderne Technologien zur Wissensvermittlung setzen und den Fokus auf zukunftssichere Tätigkeitsbereiche legen. Gerade die besonders wertvolle Praxiserfahrung aus dem betrieblichen Teil der Ausbildung sei durch die Corona-Pandemie in vielen Fällen stark eingeschränkt worden. "In einem beträchtlichen Teil der Länder hat diese Pandemie zu einem Umdenken geführt, dass man mehr in den beruflichen Teil der Ausbildung investieren muss. Die meisten Leute, die uns in der Pandemie über Wasser gehalten haben, kommen aus Ausbildungsberufen", konstatierte Schleicher.

"Es braucht wieder mehr Unterstützungsangebote im Übergangssystem." - Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB

 

Zu Beginn der Corona-Krise sei das Ausbildungsstellenangebot zurückgegangen, im weiteren Verlauf seien zudem die Bewerbungen für ebendiese Stellen zurückgegangen – aktuell dominiere jedoch der bewerberseitige Rückgang, so Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB: Die Entwicklung in Deutschland beschreibt er als "Corona-Krise des Ausbildungsmarktes mit gravierenden Auswirkungen." Insgesamt lobte Fitzenberger das duale Ausbildungssystem als gut und vorbildlich. Es erreiche aber nicht mehr so viele Jugendliche wie früher. "Es braucht wieder mehr Unterstützungsangebote im Übergangssystem, die betriebliche Bezüge aufweisen und in eine betriebliche Berufsausbildung münden", betonte Fitzenberger. Das bestehende System sei für die Jugendlichen nicht transparent genug.

Bachelor- und Meisterabschluss als gleichwertig anerkennen

"Wir müssen davon ausgehen, dass die erhoffte Erholung der Zahl der neu begonnenen Ausbildungen in diesem Jahr nicht stattfindet", beklagt Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Hohe Inflationsraten und sinkendes Wirtschaftswachstum würden sich auf den Arbeitsmarkt auswirken, was wiederum negative Konsequenzen für den Ausbildungsmarkt habe. "Die Ukraine-Krise und deren wirtschaftliche Folgen, die mit einer radikalen Änderung deutscher Energiepolitik einhergehen, schlagen sich sehr negativ auf die Situation in der Ausbildung nieder", befürchtet Esser. Nach seiner Auffassung ist hier die Politik gefragt: Bachelor- und Meisterabschluss sollten als gleichwertig anerkannt werden. So würde in der Gesellschaft die Erkenntnis gefördert, dass ein beruflicher Abschluss durchaus der Karriere diene und damit ein gutes Einkommen erzielbar sei.

Petra Reinbold-Knape, Landesbezirksleiterin der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), ging in ihrem Statement zunächst auf die Folgen der aktuellen weltwirtschaftlichen Verwerfungen für Deutschland ein. Sie warnte vor der irrigen Annahme, dass nach dem Ende der Pandemie alles wieder so sein werde wie zuvor. Auch Reinbold-Knape plädiert für eine Stärkung der beruflichen Bildung. Die Unternehmen müssten ausreichend aus- und weiterbilden. Sie beklagt, dass in den letzten Jahren die tariflichen Vereinbarungen zur Zahl der Ausbildungsplätze nicht mehr erreicht worden seien. Als ein Problem sieht sie, dass nicht nur die Bezahlung, sondern auch die Arbeitsbedingungen in akademischen Berufen oft attraktiver seien als in Ausbildungsberufen.

Regionale Ungleichgewichte im Ausbildungsmarkt

Auf die regionalen Ungleichgewichte im Ausbildungsmarkt wies Sven Nobereit hin, Geschäftsführer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Verband der Wirtschaft Thüringens (VWT). In Thüringen bewerben sich ihm zufolge auf 100 ausgeschriebene Stellen 70 Bewerbende – in Berlin dagegen sei die Situation aus Sicht der Wirtschaft deutlich entspannter. Auch zwischen einzelnen Berufen selbst innerhalb einer Branche klaffen Angebot und Nachfrage teils sehr weit auseinander. Das Problem fehlender Bewerbungen hätten vor allem kleine und ländlich gelegene Betriebe. Auch dieses habe sich in der Pandemie verschärft. Ebenso sei die praxisbezogene Berufsorientierung in der Pandemie erheblich eingeschränkt worden. Virtuelle Betriebsbesichtigungen reichten nach Einschätzung von Nobereit nicht aus. Zudem monierte er, dass die duale Berufsausbildung in den Gymnasien kaum eine Rolle spiele.

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