20.11.2020 | Redaktion | Deutscher Bundestag

Konzept der Ausbildungsreife diskutiert

Tagung der Enquete-Kommission "Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt"

Politisch und wissenschaftlich ist der Begriff "Ausbildungsreife" seit langem umstritten. Nun hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt" über das Thema "Ausbildungsreife versus Berufswahlkompetenz" beraten. Die externen Sachverständigen plädierten dafür, die berufliche Orientierung nicht als einen Prozess zu betrachten, in dessen Vollzug definierte Standards erreicht werden sollen, sondern die ungleichen Chancen zur Realisierung beruflicher Ziele in den Blick zu nehmen.

Innenansicht der Reichstagskuppel - Bild: Deutscher Bundestag, Axel Hartmann

Der Sachverständige Marc Thielen (Leibniz Universität Hannover) erläuterte den Unterschied der Ansätze: Während "Ausbildungsreife" auf Alters- und Entwicklungsnormen rekurriere und Diskrepanzen zwischen dem Entwicklungsstand Jugendlicher und den Erwartungen von Ausbildungsbetrieben betrachte, gehe es bei der "Berufswahlkompetenz" mehr um Lern- und Entwicklungsaufgaben mit einem Fokus auf den Bedingungen. Der Begriff "Ausbildungsreife" knüpfe thematisch an das ältere Konzept der Berufsreife an, sodass es um Mindestanforderungen zur Aufnahme einer Berufsausbildung gehe.

Bei der Berufswahlkompetenz stehe das Entwicklungsziel in Bezug auf die Berufs- und Zukunftsplanung sowie die Fähigkeiten im Fokus, die Jugendliche dafür benötigten. Bei der Orientierung bestünden keine grundsätzlichen Defizite, sondern vielmehr ungleiche Chancen zur Realisierung der beruflichen Ziele, sagte er weiter. Problematisch sei die "implizite Orientierung an linearen Entwicklungsmodellen und der "starke Fokus auf individuellen Persönlichkeitsmerkmalen" bei Vernachlässigung biographischer und sozialer Aspekte. Thielen plädierte für mehr didaktische Angebote und pädagogische Begleitung, sodass Inklusion "der Weg und das Ziel beruflicher Orientierung und Bildung" werde.

Abhängigkeit von regionalen Ausbildungsangeboten

Sien-Lie Saleh vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) in Stuttgart sprach als Vertreterin der Bund-Länder-BA-Begleitgruppe der "Initiative Bildungsketten" zu dem Gremium. Sie verwies auf die Ergebnisse der Sinus-Jugendstudie, die ein guter Einstieg seien, um die Hauptkritikpunkte des Katalogs zur Ausbildungsreife aus dem Jahr 2004 zu betrachten. "Damals gab es ein Überangebot an Ausbildungswilligen. Bereits seit zwölf Jahren gibt es aber mehr Ausbildungsplätze als Suchende", sagte Saleh. Die Ausbildungschancen der Bewerber hingen oftmals von der Struktur der regionalen Ausbildungsangebote ab, zudem sei das Zeitfenster sich beruflich zu orientieren sehr klein: "Selbsteinschätzung muss man lernen und üben", sagte sie und empfahl, die Konzepte stärker aufeinander abzustimmen und kohärente Systeme von der Grundschule bis zum Ende der weiterführenden Schule zu nutzen.

"Berufswahlkompetenz wird ein Arbeitsleben lang benötigt." - Sien-Lie Saleh, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung

 

Es sei wichtig, die berufliche Orientierung als einen Prozess zu sehen, der altersgerechte Angebote bereitstelle und regelmäßig die Selbstreflexion fördere, sagte Saleh. Insbesondere mehrwöchige Praktika könnten zu realistischen Einschätzungen beitragen. Sie betonte auch, dass bereits die frühkindliche Erziehung "starken Einfluss auf Rollenbilder" habe, sodass geeignete Formate der gendersensiblen und klischeefreien Selbsteinschätzung und Selbstreflexion bereits ab der Grundschule erprobt werden könnten. Auch eine Berufswahl-App oder webbasierte Potenzialanalyse könne die berufliche Orientierung stärken. "Berufswahlkompetenz wird ein Arbeitsleben lang benötigt", sagte sie. Für die Förderung des direkten Übergangs in passende Ausbildungen sei für möglichst viele auch eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit nötig, da viele Instrumente noch nicht bei allen Akteuren bekannt seien.

Weitere Informationen

  • Deutscher Bundestag: Pressemitteilung
    Die 38 Mitglieder der Enquete-Kommission "Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt" werden ihren Abschlussbericht bis zum Sommer 2021 vorlegen.