21.03.2016

Eine Reise zu den eigenen Stärken

Praxisbericht über das Projekt "komm auf Tour"

von Michael Gräf

Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler der 7. und 8. Klassen, aber auch die Auseinandersetzung mit Lebensplanung, Geschlechterrollen, Gesundheit und Sexualität: Das Projekt "komm auf Tour" ist eine breit angelegte Initiative im Bereich jugendlicher Lebenskompetenzen. Eingebunden sind neben den Jugendlichen die Lehrkräfte und Eltern – ebenso gehört zum Zielhorizont des Projektes, bestehende Kooperationen auf kommunaler Ebene nachhaltig zu stärken und den Aufbau neuer Kooperationsnetzwerke anzustoßen.

Seit 15 Jahren auf der Reise

Im Jahr 2006 gab die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit der  Bundesagentur für Arbeit (BA) den Auftrag zur Entwicklung eines Erlebnisparcours, in dem Jugendliche spielerisch Berufsperspektiven erkunden und eigene Stärken entdecken können. Ein zentrales Motiv war von Anfang an die Reise: In sechs Stationen sollten sich Schülerinnen und Schüler auf eine Entdeckungsreise zu sich selbst und ihren Möglichkeiten und Kompetenzen begeben. Dieser Erlebnisparcours wurde seither stetig weiterentwickelt. Er wird derzeit im Rahmen von regionalen und Landeskooperationen für alle Schulformen in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Schleswig-Holstein durchgeführt.

Die Agentur Sinus - Büro für Kommunikation GmbH hat "komm auf Tour" im Auftrag der BZgA entwickelt und bietet das Projekt auch weiteren interessierten Akteurinnen und Akteuren für eine Umsetzung in Bundesländern oder Kommunen an. Die Finanzierung übernehmen Länder oder Kommunen und die Agenturen für Arbeit aus Eigenmitteln und Mitteln der Vertieften Berufsorientierung.

Im "Zeittunnel" überlegen die Schülerinnen und Schüler, wie viel Lebensenergie sie für welchen Bereich aufwenden möchten. | Foto: BZgA

Zeittunnel, Labyrinth, sturmfreie Bude

Reiseterminal

Was begegnet den Schülerinnen und Schüler auf diesem Parcours, und was lernen sie dabei? – Los geht's im Reiseterminal: Hier werden die Jugendlichen von der Moderation ("Reiseleitung Futura") begrüßt und mit einem Musikvideo auf ihre Reise eingestimmt, die sie zu vier Gruppen à 15 Personen antreten. Für jede Station benötigen sie 20 Minuten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Beratungsstellen begleiten und unterstützen die Schülerinnen und Schüler als "Reisebegleitung" auch inhaltlich. An jeder Station entscheiden die Jugendlichen, welche der Aufgaben sie einzeln oder in kleinen Gruppen lösen wollen.

Zeittunnel

Im Zeittunnel entscheiden die Jugendlichen, wie viel Energie sie für die Lebensbereiche Schule, Karriere, Familie, Partnerschaft, Freundschaft, Hobbys etc. aufwenden – heute und wie ihr Energiehaushalt in der Zukunft aussehen könnte. Über das Sortieren von Fotos auch mit geschlechteruntypischen Lebens- und Arbeitswelten entscheiden sie spontan: Welche Situation kommt meiner Meinung nach im Leben vorher – welche nachher? Was ist wie möglich? Wie könnte es für mich später einmal laufen? Die Gesprächsanlässe vermitteln ihnen, dass es verschiedene, alternative Modelle gibt.

Labyrinth

Im Labyrinth sind die Schülerinnen und Schüler gefordert, sich zu orientieren, sich zurechtzufinden, Entscheidungen zu treffen: Wo geht es für mich lang? Wie finde ich meinen Weg? Allein oder gemeinsam? Unterwegs lösen sie Aufgaben wie Tipps für Krisen ausarbeiten, Hilfe suchen und finden, Möbel geschickt hindurchbalancieren, Periskope bauen und Wege ausmessen. Zum Abschluss reflektieren alle gemeinsam: "Wenn ich mal nicht mehr weiß, wie es weitergeht, dann..."

Sturmfreie Bude

"Sturmfreie Bude" heißt eine Station, die den Jugendlichen noch einmal alles abverlangt: Gerade sind die Eltern in den Urlaub gefahren und die Jugendlichen haben sturmfrei. Was ist alles zu tun, um eine Party zu schmeißen?  Für welche der Aufgaben, mit einigen eingebauten, unerwarteten Überraschungen, entscheide ich mich, z.B. Meine Wohnung, Shopping Tour, Pizza für alle, heißes Date, Haustierfütterung, Hausmusik, Betten bauen…?

Bühne

Auf der Bühne können die Jugendlichen Rollen ausprobieren und Perspektivwechsel erfahren. Hier stehen verschiedene Kurzszenen zur Wahl, die mit der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen zu tun haben, zum Beispiel "Jetzt oder nie!", "Traumjob?!?", "Neu in der Clique" und "Der große Moment". Die Jugendlichen zeigen sich – häufig zum ersten Mal – im Rampenlicht und bekommen dafür Applaus vom Publikum. Es sind aber auch Aufgaben vor und hinter der Bühne zu erledigen.

Sieben Dimensionen von Stärken und Kompetenzen

Je nach Wahl von Aufgabe und Lösungsweg erhalten die Teilnehmenden an jeder Station kleine, runde Aufkleber, welche die damit verbundenen Stärken zeigen. Diese sind wiederum mit Berufsfeldern verknüpft, so dass die Jugendlichen zum Abschluss ihrer Reise entdecken, welche beruflichen Möglichkeiten ihnen offenstehen könnten. Die Stärken werden in sieben Dimensionen erfasst und durch entsprechende Symbole abgebildet:

  • "Meine Zahlen": gern mit Zahlen umgehen
  • "Meine Dienste": Menschen gern helfen und unterstützen
  • "Meine Ordnung": gern organisieren und Ordnung machen
  • "Meine Fantasie": Spaß am Gestalten, kreativ, fantasievoll sein
  • "Meine Hände": gern mit den Händen arbeiten
  • "Mein tierisch grüner Daumen": gern mit Pflanzen und Tieren arbeiten, Umweltschutz
  • "Mein Reden": gern reden und beraten

Zum Abschluss treffen die Gruppen unter einem "Lebensmobile" wieder aufeinander. Je nachdem, welche Stärken die Jugendlichen am häufigsten gesammelt haben, gehen sie zu einem entsprechenden Stärkeschrank mit Materialcollagen aus dem Alltags- und Arbeitsleben. Die Schülerinnen und Schüler können dabei überprüfen, ob die spielerisch entdeckten Stärken mit ihrer Selbsteinschätzung übereinstimmen. Die Moderatorinnen und Moderatoren motivieren sie, zu den Schränken zu wechseln, die sie am meisten interessieren und sich zu informieren. Viele Regionen beziehen in die Stationen auch Auszubildende ein, die die Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort aufzeigen.

Steigerung des Selbstwertgefühls

Bei der Evaluation im Jahr 2008 wurde festgestellt, dass knapp zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler, die den Parcours absolviert hatten, sich ihre Zukunft nun etwas konkreter vorstellen konnten. 60 Prozent gaben an, sie wüssten nun mehr über ihre Stärken. Durchgängig zeigt sich bei den Befragungen auch eine deutlichere Steigerung des Selbstwertgefühls der Jugendlichen. Wichtige Eckdaten werden seither kontinuierlich durch Befragungen der teilnehmenden Schüler, Lehrer und Eltern erhoben. Erreicht werden bundesweit jährlich rund 50.000 Schülerinnen und Schüler, 3.500 Lehrerinnen und Lehrer sowie 5.700 Erziehungsberechtigte.

Spielerisches Erleben ohne Leistungsdruck

Die spielerische Komponente der "Reise zu den eigenen Stärken" spielt für den Erfolg des Projekts eine große Rolle. Bewusst suchen die Moderatorinnen und Moderatoren die Nähe zu den Jugendlichen, agieren auf Augenhöhe, indem sie sich konsequent duzen lassen, und erzählen auch von sich selbst. Auch Schülerinnen und Schüler oder ganze Klassen, die ihnen als besonders schwierig angekündigt werden, lassen sich so relativ leicht gewinnen. Das liegt auch daran, dass sie im Parcours Akteure in eigener Sache sind. Und wenn teilnehmende Jugendliche mal besonders hartnäckig stören oder sich unterhalten, finden erfahrene Moderatorinnen und Moderatoren Wege, um die Energie, die sie mitbringen, aufzugreifen und positiv umzuwandeln.

Sie wissen um die seelischen und körperlichen Belastungen von Jugendlichen und vermitteln ihnen ressourcenorientiert die Bedeutung von Zuversicht, Selbstbewusstsein und Selbständigkeit, zum Beispiel in der Sturmfreien Bude: "Jeder und jede von euch hat Stärken. Je besser Du dich kennst, desto leichter fallen dir Entscheidungen für dein Leben."; "Trau dich auch an neue und herausfordernde Aufgaben heran." Im Zeittunnel: "Deine Zukunft beginnt jetzt"; "Du entscheidest selbst, wie dein Leben verläuft." "Probiere dich aus, zeige dich mit deinen Stärken und finde Lösungen auch für herausfordernde Situationen", ist die Botschaft auf der Bühne. Und als Gruppe erleben die Jugendlichen Orientierung und finden gemeinsam Lösungsstrategien: "Im Team geht vieles leichter."

Die Herausforderungen der Pandemie greift Sinus kommunikativ und über eine Anpassung der Abläufe und Methoden auf. Und falls eine Präsenzveranstaltung nicht möglich sein sollte, können die Jugendlichen ihre Stärken und Zukunftswünsche in einem digital moderierten Stärken-Workshop mit spielerischen Tools entdecken.

Verknüpfung von Berufsorientierung und Lebenswelt

Einzigartig ist bei "komm auf Tour" die Verknüpfung von Berufsorientierung mit dem lebensweltbezogenen Horizont der Schülerinnen und Schüler. Über den Stärkenansatz ist das Projekt auf die Zukunft der Jugendlichen ausgerichtet und fördert mit seiner interaktiven, ganzheitlichen Ausrichtung die Entwicklung von Lebenskompetenzen und Perspektiven für das eigene Leben. So geht es bei dem Parcours neben der Entdeckung berufsbezogener Kompetenzen und Stärken auch um Themen wie die persönliche Lebensplanung, Geschlechterrollen, Klischeefreiheit, Gesundheit und Sexualaufklärung. In der "sturmfreien Bude" muss zum Beispiel vor der Shoppingtour erst der Siphon unter der Spüle repariert werden. "Zufällig" entdeckte Kondome werden zum Aufhänger für eine Verhütungsdiskussion. In diesem Themenbereich arbeitet das Projekt auch mit regionalen Beratungsstellen wie z.B. pro familia zusammen.

Entwickelt wurde diese Verbindung aufgrund von Erkenntnissen einer BZgA-Studie, die zeigt, dass Teenager-Schwangerschaften häufiger bei bildungsferneren Jugendlichen auftreten. Tendenziell riskieren sie häufiger eine ungeplante Schwangerschaft und haben eher Schwierigkeiten, gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen. Die Entwicklung von Zukunftsperspektiven wird neben Informationen zu Verhütungsmethoden als wirkungsvoller Beitrag zur Prävention unerwünschter Schwangerschaften gesehen.

Zusammenarbeit mit den schulischen Fachkräften

Lehrerinnen und Lehrer sind beim Durchlaufen des Parcours übrigens nicht zu sehen; auf diese Weise soll jeder Anschein von Leistungsdruck und Kontrolle von den Jugendlichen ferngehalten werden. Das heißt nicht, dass sie im Projektkontext unwichtig sind, im Gegenteil: Nur wenn die  Lehrkräfte mit den Ergebnissen der Parcours weiterarbeiten und die Projektmaterialien im Unterricht weiter nutzen, bleibt das Bewusstsein der eigenen Stärken bei den Schülerinnen und Schülern nachhaltig aktiv. Während die Schülerinnen und Schüler den Parcours durchlaufen, kommen die begleitenden schulischen Fachkräfte intensiv mit den regionalen Akteurinnen und Akteuren der Beratungsstellen aus den Bereichen Berufsorientierung und Lebensplanung ins Gespräch, lernen die konkreten Angebote für Schulen kennen und Kooperationen zu vereinbaren. Darüber hinaus erhalten sie eine Kurzführung durch den Parcours sowie themenspezifische und projektbezogene Materialien zur Unterrichtsgestaltung, wie zum Beispiel dem so genannten "Stärkenentdecker". Vor dem Parcoursbesuch haben sie in einem zweistündigen Workshop methodische Anregungen zur Vor- und Nachbereitung erhalten und können auf Praxismaterialien zurückgreifen.

Einbindung der Eltern und Erziehungsberechtigten

Für die Eltern und Erziehungsberechtigten findet ein Informationsabend statt,  bei dem sie Tipps und Hilfestellungen zur Berufsorientierung und Lebensplanung ihrer Kinder erhalten und mit den Beratungsstellen der Lebensplanung und Berufsorientierung ins Gespräch kommen können. Eine mehrsprachige "Elternspielkarte" soll ihnen dabei helfen, die Stärken ihres Sohnes oder ihrer Tochter zu reflektieren und später mit den Ergebnissen des Parcours zu vergleichen. Dadurch wird auch das Gespräch zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern angeregt.

Impulse für möglichst nachhaltige Kooperation

Damit Kooperationen nicht allein dem Zufall oder dem Interesse einzelner Akteure zu verdanken sind, setzt "komm auf Tour" bewusst auf die Förderung einer möglichst nachhaltigen Zusammenarbeit von Schulen, Eltern und  außerschulischen Institutionen. Dazu werden Kooperationstreffen durchgeführt, an denen auch die örtliche Agentur für Arbeit, das Schulamt, Beratungsstellen, das Jugend- und das Gesundheitsamt, Kammern und Kreishandwerkerschaft sowie gegebenenfalls Unternehmen, Gewerkschaften, Integrations- und Elternräte teilnehmen können und sollen. Oft treffen sich dabei Akteure und Institutionen, die noch nie zuvor zusammengearbeitet haben. Ein zentrales Ziel des Projekts ist es, solche neuen Kooperationen "anzustiften" und bereits bestehende Netzwerke zu stärken.

Schüler mit Dunkelbrille wird von Mitschüler durchs Labyrinth geführt
Im Labyrinth: Wo geht's lang? | Foto: BZgA

Der "komm auf Tour"-Parcours bietet ein erprobtes Grundgerüst, das je nach regionalen oder inhaltlichen Erfordernissen abgewandelt wird und auch in der Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen gut funktioniert. Die Spiele und pädagogischen Ansatzpunkte des Parcours selbst werden ohnehin fortlaufend weiterentwickelt – je nach Erfahrungen und Impulsen aus der praktischen Arbeit.

Weitere „komm auf tour“-Module

Neben dem außerschulischen ERLEBNISPARCOURS haben sich bedarfsorientiert weitere interaktive Module für spezifische Zielgruppen und Settings entwickelt. Diese lassen sich ergänzend oder alternativ in Schulen oder außerschulisch in Betrieben einsetzen, zum Beispiel:

  • Der ERLEBNISRAUM ermöglicht auf kleinem Raum eine Stärkenentdeckung und themenfokussierte Berufsorientierung/Lebensplanung für rund 30 Jugendliche in Workshopform an je nach Zeitbudget 3-6 Themeninseln.
  • In der ZUKUNFTSMUSIK realisieren 50 bis 150 Jugendliche bei einem stärkenorientierten Mitmach-Konzert ihre kreativen, musischen, tänzerischen und kommunikativen Fähigkeiten.
  • ICH BIN AUF TOUR ist ein intensives mehrtägiges Angebot für besondere Zielgruppen wie Förderschüler/innen oder neu zugewanderte Jugendliche.
  • Bei der interaktiven EXPEDITION IM BETRIEB durch ein größeres Unternehmen erforschen Jugendliche dessen Stärken und gleichen diese mit den eigenen ab.
  • In der  STÄRKEN-RALLYE entdecken Schüler/innen die Stärken und Ausbildungsberufe in mehreren kleinen Betrieben, z.B. innerhalb einer Einkaufsstraße oder eines Gewerbegebiets.
  • Auf der BERUFEMESSE nutzen Betriebe und Jugendliche die Stärken als Leitsystem, um Orientierung zu bekommen und Kommunikationsanlässe zu schaffen.
  • Das AKTIONSPAKET "SOFT SKILLS" ist ein von "komm auf Tour" unabhängig und eigenständig einsetzbares Angebot im betrieblichen Kontext. Es sensibilisiert und motiviert für die Relevanz von 9 + 1 Schlüsselkompetenzen.
  • In der ZUKUNFTSWERKSTATT reflektieren die Schüler/innen ihre gewonnenen Erfahrungen und planen ihre nächsten Schritte für ein Praktikum oder eine Bewerbung um einen Ausbildungsplatz.

Weitere Informationen

  • www.komm-auf-tour.de
    Die Projektseite informiert über die Ziele von "komm auf Tour" und gibt Einblicke in das Programm und seine verschiedenen Module sowie anstehende Veranstaltungstermine.

Zuletzt aktualisiert am 13.04.2022nach oben