08.09.2025 | Redaktion: Verónica Fernández, Frank Neises, Karin Maria Rüsing

Chancengleichheit – Ideal oder Missverständnis

Interview mit dem spanischen Soziologen César Rendueles zur Rolle der Bildung im Übergang Schule – Beruf

Die Chancengleichheit hat ihren Platz, wo es um faire Wettkampfbedingungen geht, im Sport, bei Ausschreibungen, bei der Vergabe von Forschungsmitteln. Wenn es aber um die Grundlagen für ein gelingendes Leben geht, dann fordert der spanische Soziologe César Rendueles, den Blick auf das Ziel zu richten, nicht auf den Start. In seiner Schrift mit dem provokativen Titel "Gegen Chancengleichheit" plädiert er dafür, dass alle die Möglichkeit erhalten, ihre besten Fähigkeiten zu entwickeln, um ein Leben in Würde zu führen. In unserem Interview spricht er darüber, welche Rolle Bildung und Arbeit dabei übernehmen können und warum ein Scheitern nicht zwingend das Versagen von Einzelnen ist.

Herr Rendueles, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Entscheidungen, die uns als Individuum prägen, in der Pubertät und im Übergang zum Erwachsensein getroffen werden. Was bedeutet das für den Übergang von der Schule ins Berufsleben?

Der Einfluss äußerer Bedingungen auf Bildungslaufbahnen wird oft unterschätzt. Bild: Ulf Dressen | Adobe Stock

Der Wirtschaftswissenschaftler James Duesenberry pflegte scherzhaft zu sagen, dass die Ökonomie danach fragt, wie die Menschen ihre Entscheidungen treffen, während die Soziologie erklärt, dass sie in Wirklichkeit nichts zu wählen haben. Ich glaube, wir leben in einer Gesellschaft, in der uns gesagt wird, dass der Übergang zum Erwachsensein der Moment ist, in dem wir eine Reihe von wichtigen Entscheidungen treffen, die uns für den Rest unseres Lebens beeinflussen. Das ist natürlich nicht ganz unwahr. Ich habe aber den Eindruck, dass diese Denkweise dazu führt, dass wir unterschätzen, wie stark unsere Präferenzen und Möglichkeiten sowohl durch unser unmittelbares soziales Umfeld als auch durch umfassendere soziale und historische Prozesse beeinflusst werden. Die Komplexität dieser Art von Einflüssen ist von politischen Projekten, die mehr soziale Gleichheit erreichen wollen, nicht immer gut verstanden worden.
Ungleichheit hat mit objektiven Strukturen zu tun, die auf Arbeits- oder Wirtschaftsbedingungen beruhen, aber auch mit unserer Identität, mit Alltagspraktiken im Zusammenhang mit unseren Bezugsgruppen oder den Sozialisationsinstitutionen, an denen wir teilnehmen.

Unsere Präferenzen und Möglichkeiten werden sowohl durch unser unmittelbares soziales Umfeld als auch durch umfassendere soziale und historische Prozesse beeinflusst.

 

Wie wirken sich strukturelle Benachteiligungen auf den Übergang ins Berufsleben aus? Wie steht es um die Chancengleichheit?

Kinder aus gut gestellten Familien erhalten häufig mehr Unterstützung. Bild: Geber | Adobe Stock

Wir wissen zum Beispiel, dass sich Kinder und Jugendliche, die aus sozioökonomisch besser gestellten Familien stammen, mehr Fehler oder Rückschläge auf ihrem Bildungsweg leisten können als Kinder aus sozial schwachen Familien.
Bei einem Kind aus einer wohlhabenden oder akademisch gebildeten Familie führt eine schlechte schulische Leistung häufig zu einer Intervention, die darauf abzielt, das Kind dabei zu unterstützen, das Problem zu überwinden und ein Studium zu absolvieren.
Bei einem Kind aus der Arbeiterklasse werden schlechte Ergebnisse oft als Bestätigung eines vorbestimmten Schicksals gesehen. Wir neigen dazu, Chancengleichheit und Meritokratie* zu verwechseln, weil sie oft so verwendet werden, als seien sie synonyme Begriffe, aber das sind sie keineswegs.

Kinder aus sozioökonomisch besser gestellten Familien können sich mehr Fehler oder Rückschläge auf ihrem Bildungsweg leisten als Kinder aus sozial schwachen Familien.

 

Bei der Chancengleichheit geht es darum, sicherzustellen, dass man unabhängig von seiner sozialen Ausgangsposition die reale Möglichkeit hat, seine besten Talente zu entwickeln und das zu tun, was man am besten kann. Es ist vollkommen vernünftig, denjenigen zu Berufen im Bereich Medizin, Handwerk, Journalismus oder Kunst zu verhelfen, die die jeweils besten Fähigkeiten dafür mitbringen, unabhängig von ihrer Familie oder ihrem sozialen Hintergrund. Eine solche horizontale soziale Mobilität setzt nicht unbedingt ein meritokratisches System voraus. Die Meritokratie fügt dem noch eine Hierarchie der Belohnungen und des Ansehens hinzu, wenn diese Berufe mit bestimmten Privilegien, höheren Gehältern oder größerem Prestige verbunden werden. Das erste ist Chancengleichheit, nämlich der gleiche Zugang zu den Möglichkeiten, sich als Person zu entwickeln. Das zweite ist ein Programm zur Elitenförderung.

* Der Begriff Meritokratie

Der Begriff Meritokratie leitet sich vom lateinischen Wort meritum (Verdienst, Lohn, Würdigkeit) ab, wobei mit dem nachgestellten -kratie (vom altgriechischen kratos: Stärke, Macht, Herrschaft) stets ein für die Gesellschaft leitendes Prinzip gemeint ist. Meritokratie lässt sich also als "Herrschaft der Leistung" übersetzen. Der Begriff bezeichnet eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der als legitim angesehenen Verteilung von Einfluss, Macht und Gütern, die auf dem Leistungsprinzip beruht: Wer welche Positionen einnimmt (etwa betriebliche oder politische Leitungspositionen) und wer welche Güter in welchem Umfang erhält (etwa Bildungsmöglichkeiten oder ein hohes Einkommen), soll sich allein an der unter Beweis gestellten Leistungsfähigkeit des Individuums entscheiden.

  • bpb: Bildung und soziale Ungleichheit
    Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet auf dieser Website einen umfassenden Überblick über die Herkunft und Bedeutung des Begriffs "Meritokratie".

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In der Tat ist es interessant, dass der Begriff "sozialer Fahrstuhl" nur zur Erklärung von Aufstiegsbiografien verwendet wird, niemals jedoch für den vermeintlichen sozialen Abstieg. Der Grund dafür ist, dass die Rede von der Leistungsgesellschaft ein Diskurs zur Legitimierung von Ungleichheiten ist und kein Mechanismus der Chancengleichheit. Befürworter der Meritokratie sprechen immer vom fleißigen Sohn einer Bauarbeiterfamilie, der es bis zum Ingenieur schafft. Nie vom Sohn von Ingenieuren aus einem reichen Viertel, der schließlich als Bauarbeiter tätig ist.

Kinder und Jugendliche werden von klein auf bewertet und kategorisiert und auf dieser Basis Förder- und Bildungsangeboten zugewiesen. Ist das – aus Ihrer Sicht – förderlich oder hinderlich für die persönliche Entwicklung?

Ich denke, das ist grundsätzlich hinderlich. Erstens, weil es auf einer Fiktion beruht: der Vorstellung, dass wir in der Lage sind, Talent und Leistung genau zu erkennen, auszuwählen und zu bewerten. Im Allgemeinen ist die Idee einer leistungsorientierten Auswahl ab einer bestimmten Qualifikationsschwelle eher phantasievoll.
Ein Test beispielsweise, bei dem die Schüler mit Noten bis zu einer ganzen Zahl und einer Nachkommastelle bewertet werden, zum Beispiel 5,2 oder 7,6 (Die Beispiele beziehen sich auf das spanische Benotungssystem. Es wird von 1 [sehr schlecht] bis 10 [sehr gut] bewertet.), geht davon aus, dass es möglich ist, genau zwischen hundert möglichen Leistungen eines Schülers zu unterscheiden. Mit zwei Nachkommastellen sind es tausend mögliche Leistungen.

Zweitens, weil Ranking und Auswahl zu einer Wettbewerbsdynamik führen, die der Bildungspraxis, also der Vermittlung und Entwicklung von Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen, sehr abträglich ist. Dies ist ein globales Phänomen. Die allgemeine Verbreitung ausleseorientierter Bildungswettbewerbe führt zu einem "teaching to the test", mit folgenschweren Auswirkungen auf die Bildung, die als Instrument der Emanzipation verstanden wird. Schließlich hat der Wettbewerb auch sehr negative persönliche Auswirkungen. In vielen Ländern ist heute das wichtigste Vorhersagemerkmal für das Auftreten von psychischen Erkrankungen im Jugendalter die mit den schulischen Anforderungen verbundene Angst.

Wie wirken sich diese strukturellen Benachteiligungen auf den Übergang ins Berufsleben aus? Wie steht es um die Chancengleichheit?

Lernen ist kein Selbstzweck und sollte nicht nur auf das Bestehen von Tests ausgerichtet sein. Bild: rawpixel.com | Adobe Stock

Viele Auswahlverfahren sind, zumindest teilweise, ein Legitimationsritual derjenigen, die bereits zur ausgewählten Gruppe gehören. Auffallend ist das Fehlen von Kriterien zur nachträglichen Überprüfung in den meisten anspruchsvollen Auswahlverfahren. Aus dem Hochschulbereich ist dies nur allzu gut bekannt: Experimentelle Studien belegen, dass zufällig aus den abgelehnten Forschungsanträgen ausgewählte und dennoch finanzierte Projekte Ergebnisse erzielen, die ebenso gut oder sogar besser sind als die der ursprünglich bewilligten Vorhaben.
Und generell betrachtet verlagert die meritokratische Ideologie die Verantwortung für die Auswirkungen globaler wirtschaftlicher Probleme – wie Arbeitslosigkeit, Standortverlagerungen oder den wachsenden Einfluss der Finanzmärkte – auf das Individuum. So erscheinen die Folgen dieser strukturellen Konflikte als persönliches Versagen. Das meritokratische Bildungssystem entfaltet in den Biographien der Einzelnen die Fiktion eines fairen Wettbewerbs, in dem Anstrengung belohnt wird: ein Mechanismus der individuellen und konfliktfreien sozialen Verbesserung, der weder Solidarität unter den Verlierern noch Konfrontation mit den Gewinnern erfordert. Im Grunde handelt es sich um ein ideologisches System zur Rechtfertigung bestehender Ungleichheiten.

Ranking und Auswahl führen zu einer Wettbewerbsdynamik, die der Bildungspraxis sehr abträglich ist. [...] Bildung sollte als Instrument der Emanzipation verstanden werden.

 

Viele Schulen nutzen Auswahlmechanismen, die bestimmten Gruppen den Zugang erschweren. Dies widerspricht dem Anspruch von Bildung, als Instrument der demokratischen Sozialisation im Sinne der Gleichheit zu dienen. Kann Bildung diesem Anspruch dennoch gerecht werden?

Oft deuten wir Niederlagen als persönliches Versagen – dabei handelt es sich meist um strukturelle Prozesse. Ein Beispiel ist die allgemeine Schulpflicht: Sie war in bestimmten Phasen ein wirksames Instrument zur Förderung von Gleichheit. Doch dieser egalisierende Effekt blieb begrenzt und schlug schließlich ins Gegenteil um. So wurde Bildung zu einem zentralen Mittel sozialer Segregation. Entscheidend ist jedoch, dass weder die Unterbrechung der Gleichheitsdynamik noch ihre Umkehr zwangsläufige Folgen allgemeiner Bildung sind – sie beruhen auf politischen Entscheidungen. Seit Jahrzehnten gibt es einen erbitterten Konflikt zwischen Befürwortern von Bildungsegalitarismus und Anhängern elitärer Modelle. Derzeit haben Letztere die Oberhand. Doch dieses Ergebnis ist weder endgültig noch unvermeidlich. Die Auseinandersetzung um mehr Gleichheit im Bildungswesen kann fortgeführt werden.

Sie schreiben, dass das Bildungssystem die Klassenzugehörigkeit reproduziert und dass die Möglichkeiten der Bildung überschätzt werden.

Bildung allein kann sozialer Ungleichheit nicht entgegenwirken. Bild: Daniele Pietrobelli | Adobe Stock

Das ist ein alter Gedanke, der von Christopher Jenks vertreten wird. In einem Anfang der 1970er Jahre veröffentlichten Aufsatz vertrat er die Ansicht, dass der Schlüssel zum Bildungserfolg nicht in der meritokratischen Chancengleichheit liege, sondern in der sozialen Schicht, und dass daher die wirksamste Methode zur Verringerung der Ungleichheit darin besteht, direkt die Einkommensverteilung anzugreifen, anstatt sich auf die Struktur der Bildungschancen zu konzentrieren.

Ich glaube, dass wir seit Jahrzehnten das Bildungssystem mit Erwartungen überlasten, die weit über seine eigentliche Aufgabe hinausgehen – von der Lösung der ökologischen Krise über die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bis hin zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Der Grund dafür ist weniger das Vertrauen in die magischen Kräfte der Bildung als vielmehr der Verlust der politischen Souveränität aufgrund der Dynamik der weltweiten Finanzmärkte. Wir wollen, dass das Bildungssystem – und nicht wer immer politisch verantwortlich ist – die Probleme der Ungleichheit löst, denn in zunehmend marktorientierten Gesellschaften stehen uns immer weniger Instrumente für kollektives Handeln zur Verfügung. Bildung erscheint daher als einzige verbleibende Option.

Was können wir von der Bildung erwarten, ohne sie zu überfordern? Wie sollte die Bildung gestaltet sein, um eine egalitäre Gesellschaft und gleichzeitig individuelle Perspektiven zu stärken?

Die rechte Bildungsbewegung hat erkannt, dass Bildung ein machtvolles Instrument ist um Einfluss zu gewinnen, ein Werkzeug, um Bindungen gesellschaftlicher Gruppen zu schaffen. Bildungssysteme vermitteln nicht nur Wissen, sondern auch Normen, zum Beispiel Leistungsbereitschaft, Tradition und Fortschritt. Wenn Mitglieder unterschiedlicher Gruppen diese Sichtweisen übernehmen, stärkt das ihre Bindung und sie fühlen sich einer gemeinsamen Ordnung verpflichtet. Diesen Rahmen sollten wir ernst nehmen. Wir sollten aufhören, Bildung als Lösung für alle Probleme zu sehen und uns darauf konzentrieren, was sie wirklich leisten kann. Bildung allein schafft keine gleichberechtigte Gesellschaft, indem sie moralisiert oder Werte vermittelt. Aber sie ist ein wichtiger Weg, damit Menschen auf unterschiedlichen Ebenen Solidarität entwickeln können, um sich in ein gemeinsames soziales Projekt einzubringen, das auf Gleichberechtigung und Augenhöhe ausgerichtet ist.

Wir sollten aufhören, Bildung als die Lösung für alles zu sehen, und uns auf das konzentrieren, was sie lösen kann.

 

Ich glaube, dass die Menschen eine reaktionäre und elitäre Bildung deshalb akzeptieren, weil sie davon überzeugt wurden, dass dies der beste Weg sei, um ihre Kinder für den Wettbewerb in einer Welt zu wappnen, in der es unweigerlich einen Verdrängungswettbewerb gibt. Um das zu ändern, müssen wir den Menschen zeigen, dass die Welt nicht rücksichtslos sein muss, und das geht weit über die Bildung hinaus. Aber wir müssen sie auch davon überzeugen, dass wir in der Lage sind, ihre Kinder mit Mitteln zu erziehen, die nicht nur genauso gut sind wie die des pädagogischen Elitismus, sondern sogar viel besser.

Die materiellen Auswirkungen des Angriffs auf das öffentliche Bildungssystem waren verheerend. Dazu zählen beispielsweise der Sanierungsstau, die Ausstattungslücken und der Lehrkräftemangel. Die viel entscheidenderen Auswirkungen des Bildungsneoliberalismus aber sind nicht die Ausgabenkürzungen, sondern die Art und Weise, wie diese unsere Vorstellungen davon verändert haben, was wir im Bereich Bildung für möglich halten. Wir wagen nicht zu träumen, sondern geben uns mit kleinen Errungenschaften zufrieden. Würde sich das Bildungsbudget morgen verdreifachen, hätten wir sicherlich Schwierigkeiten, uns auf diese neue Situation einzustellen.

"Nicht für die Schule, sondern für das Leben". Bildung als Bestandteil einer demokratischen Lebensweise. Bild: Christian Schwier | Adobe Stock

Bildung, wie wir sie heute verstehen, ist das Ergebnis eines äußerst ehrgeizigen Projekts, das vor fast zwei Jahrhunderten von einigen sozialen Reformbewegungen vorangetrieben wurde: die traditionelle Bildung, die auf dem Auswendiglernen von Inhalten beruht, die von der Tradition und der Kirche gebilligt werden, sollte durch eine kritische Bildung ersetzt werden, die die Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten aller Menschen fördert. Heute fällt es uns schwer, eine Verbindung zu diesem großen Projekt herzustellen. Unsere Bildungsträume sind klein, weil wir sie meist nur individuell oder höchstens auf Organisationsebene denken – nicht als gesellschaftliches Projekt: Träume von Lehrenden, die gute Gehälter und disziplinierte Lernende wollen; Träume von Schülerinnen und Schülern, die Spaß am Unterricht haben und leicht bestehen wollen; Träume von Familien, die wollen, dass ihre Kinder gute Noten bekommen und Zugang zu gut bezahlten Arbeitsplätzen haben. Große Träume für die Bildung zu haben bedeutet, gemeinsam zu träumen. Die utopischen Ambitionen derjenigen wiederaufleben zu lassen, die glaubten, dass Bildung ein grundlegendes Element der Demokratie sein kann, die nicht als Regierungssystem, sondern als Lebensform verstanden wird. Auch in der Bildung sollten wir uns von Raymond Williams' Motto leiten lassen: "Wirklich radikal zu sein bedeutet, nicht die Verzweiflung überzeugend, sondern die Hoffnung möglich zu machen."

Ihr Buch trägt den Titel "Gegen die Chancengleichheit". Warum halten Sie diesen Begriff nicht für angemessen? Welchen würden Sie vorziehen?

Der Titel ist eine Provokation. Natürlich habe ich nichts gegen Chancengleichheit. Chancengleichheit ist ein Ideal der angemessenen Fairness in wettbewerblichen und verfahrenstechnischen Auswahlprozessen. Es handelt sich um die Art von Gleichheitskriterien, die wir zum Beispiel bei einer Prüfung, beim Zugang zu Forschungsmitteln oder bei einem sportlichen Wettbewerb erwarten. Wir haben knappe Ressourcen (wirtschaftliche oder prestigeträchtige), und wir wollen auswählen, wer in den Genuss dieser Ressourcen kommt, indem wir die Kanditatinnen und Kandidaten auswählen, die am besten in der Lage sind, sie zu nutzen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass das Motto der Chancengleichheit dazu genutzt wurde, ein Ideal allgemeiner sozialer Gerechtigkeit zu propagieren, eine verzerrte Version von Gleichheit, die sich nur auf den Ausgangspunkt konzentriert und die ungleichen Belohnungen verschiedener Positionen oder Berufe außer Acht lässt. Der Titel war eine Möglichkeit, eine Gleichheit zu fordern, die sich auf den Punkt konzentriert, an dem man ankommt! Die Chance, die es zu verallgemeinern gilt, ist die Chance für jeden, seine besten Fähigkeiten zu entwickeln und ein Leben in Würde zu führen.

Der Begriff "Chancengleichheit" konzentriert sich auf den Ausgangspunkt. Statt dessen sollten wir eine Gleichheit fordern, die sich auf den Punkt konzentriert, an dem man ankommt. Die Chance für jeden, seine besten Fähigkeiten zu entwickeln und ein Leben in Würde zu führen.

 

Eine inklusive Ausrichtung wäre doch für alle von Vorteil: Mehr Gerechtigkeit, weniger soziale Ungleichheit und größerer wirtschaftlicher Erfolg auf der einen Seite; und auf der anderen eine größere Teilhabe an Bildung und Arbeit sowie am gesellschaftlichen Leben. Warum werden diese Ideen von Inklusion und Vielfalt Ihrer Meinung nach nicht energischer verfolgt und umgesetzt?

Teilhabe und Integration sind nicht für alle erstrebenswerte Ziele. Bild: Animaflora PicsStock | Adobe Stock

Inklusion und Gleichheit sind für die große Mehrheit von Vorteil – nicht aber für jene kleine Minderheit, die von bestehenden Macht- und Besitzverhältnissen profitiert. Für sie ist Ungleichheit kein Nebeneffekt von Kommerzialisierungsprozessen, sondern deren eigentliches Ziel. Die Akzeptanz solcher Ungleichheiten beruht weniger auf offenen Überzeugungen oder Ideologien, sondern auf der Organisation des Alltagslebens. Deutlich wird dies im Bereich der Wohnungspolitik: Familien verschulden sich über Jahrzehnte für den Erwerb eines Eigenheims – aus ökonomischem Kalkül, aus familiärer Verantwortung oder aus Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Ob die Eigentumsordnung als gerecht oder ungerecht empfunden wird, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, wie eng sie mit den individuellen Lebensplänen verflochten ist.
Genau darin liegt die Stärke neoliberaler Hegemonie: Sie stützt sich nicht in erster Linie auf Überzeugungsarbeit oder Propaganda, sondern auf alltägliche Routinen, Institutionen und Verpflichtungen. Ähnlich wie beim Wohnen prägen auch Bildung, Arbeitsmarkt oder Freizeit diese stillschweigende Zustimmung. Der große Erfolg des Neoliberalismus besteht darin, ein Geflecht gesellschaftlicher Praktiken geschaffen zu haben, das Konsens erzeugt, ohne diesen immer wieder neu ideologisch begründen zu müssen.

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