15.06.2023

Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit fördern

Grundlagen für die Begleitung junger Menschen in Übergängen

Von Ulrich Weiß

Ulrich Weiß hat in einem Beitrag für die BIBB-Fachzeitschrift BWP gemeinsam mit Frank Neises (Fachstelle überaus) das Konzept der erwerbsbiografischen Selbstverantwortung als eine der konkreten Berufswahl vorgängige Orientierungsleistung vorgeschlagen. In seinem Gastbeitrag für überaus erläutert er diese theoretischen Grundlagen eines emanzipierten Umgangs mit Übergängen. Er fragt nach den Zielen der Übergangsbegleitung, entwickelt pädagogische Leitlinien dafür und schärft den Blick für die dahinterstehende Grundhaltung bei den Begleiterinnen und Begleitern, sowohl in nicht-digitalen als auch in digital gestützten Beratungssituationen.

Grundlagen eines emanzipierten Umgangs mit Übergängen

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Übergänge lösen oft Ungewissheit aus, erfordern Veränderung und Anpassung, und es gibt keine Patentrezepte zu ihrer Bewältigung. Wir können sie nur individuell und gegebenenfalls mit Unterstützung von außen bewältigen. Die Krisensituation des Übergangs stellt sich Jugendlichen als Entwicklungsaufgabe; sie können sich ihr nicht entziehen. Und sie wirkt auf alle Jugendlichen unterschiedlich, Jugendliche brauchen zum Beispiel unterschiedlich viel Zeit, bis sie einen Umgang mit ihren Unsicherheiten gefunden haben und zu einer tragfähigen Übergangsentscheidung in der Lage sind.

In der aktuellen öffentlichen Besprechung von Übergängen von der Schule in Ausbildung, Studium oder andere erwerbsbezogene Angebote gerät diese subjektorientierte Sicht auf Übergänge bisweilen aus dem Blick. Politik fokussiert den Fachkräftemangel in vielen Branchen als Problem, das auch dadurch gelöst werden soll, möglichst viele Jugendliche in qualifizierende Ausbildung zu vermitteln. Übergänge werden aus der Perspektive des Bedarfs besprochen und entsprechend politisch gesteuert.

Es gibt einen Unterschied zwischen politischen und pädagogischen Zielen in der Besprechung von Übergängen.

 

Der pädagogische Blick auf Übergänge hingegen fokussiert die Herausforderungen, Bedürfnisse, Wünsche, Notlagen und Ängste Jugendlicher, die den Weg durch den "Übergangsraum" erleichtern, erschweren oder auch stagnieren lassen. Berufsorientierung ist aus pädagogischer Sicht nur als Prozess zu denken, der mit dem Eintritt in die Lebensphase Jugend zunehmend an Bedeutung gewinnt und dessen Verlauf sich nicht didaktisch vorbestimmen lässt. Daher eignet sich "Vermittlung in Ausbildung" nicht als pädagogisches Ziel der Begleitung von Übergängen, sondern kann allenfalls als eine Option unter verschiedenen anderen in einem pädagogischen Begleitungsprozess thematisiert werden.

Das zentrale pädagogische Ziel der Begleitung von Übergängen liegt aus Sicht der Jugend im Aufbau erwerbsbiografischer Selbstverantwortung, also in der Begleitung jener Entwicklungsaufgabe, die im Kinder- und Jugendbericht von 2020 so beschrieben wird: "Für alle Jugendlichen geht es darum, eine Allgemeinbildung sowie eine soziale und berufliche Handlungsfähigkeit zu erlangen (Qualifizierung), aber gleichermaßen um die Übernahme von Verantwortung für sich selbst (Verselbstständigung) und um das Finden einer Balance zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Erwartungen (Selbstpositionierung)."

Der Begriff der "erwerbsbiografischen Selbstverantwortung" (vgl. BWP 2/2023 – Neises/Weiß: "Jugend zwischen Aufbruch und Stagnation") umschreibt die Bedingungen einer emanzipierten erwerbsbiografischen Selbst-Positionierung, die sich aus Bedingungen des Individuums, aus Anforderungen der Erwerbsbiografie und aus Beziehungen im sozialen Gefüge zusammensetzt. Erst wenn Jugendliche ein Gefühl von Zuständigkeit und Handhabbarkeit ihrer Lebensentscheidungen entwickeln, können sie sich konkreten Bildungs- oder Berufsentscheidungen aktiv und emanzipiert zuwenden. Diese Gleichzeitigkeit von Zuständigkeit und Handhabbarkeit hängt maßgeblich vom Erleben von Selbstbestimmung, von Anerkennungsbeziehungen und vom Aufbau von Kompetenz ab.

Selbstbestimmung

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Wie selbstbestimmt wir uns bei unseren täglichen Anpassungen an die Erfordernisse von Schule, Studium oder Arbeit fühlen, hängt vom Erleben von Autonomie im Handeln, von sozialer Eingebundenheit und vom individuellen Kompetenzerleben ab. Dies ist Kern der "Selbstbestimmungstheorie der Motivation", die seit den 1990er Jahren eine bedeutsame Rolle in der pädagogischen Psychologie spielt. Neben den psychologischen Grundbedürfnissen des Erlebens von Selbstbestimmtheit beschreiben Deci und Ryan auch das Verhältnis von intrinsischer und extrinsischer Motivation. Intrinsische Motivation sehen wir etwa im freien Spiel bei Kindern; sie braucht keinen äußeren Anreiz. In weiten Teilen der Pädagogik hat es sich zur Gewohnheit entwickelt, von intrinsischen Motivationsformen als den "guten" Motivationsformen zu sprechen und nach dieser intrinsischen Motivation zu suchen, wenn wir mit Jugendlichen über die Zukunft sprechen.

Dies tun wir beispielsweise, wenn wir Jugendliche danach fragen, wofür sie sich interessieren, um zur Frage nach der Berufswahl überzuleiten. So wichtig es einerseits ist, dass wir in unserem Handeln einen Bezug zu unseren intrinsischen Handlungsanreizen herstellen können, so komplex ist das Zusammenspiel mit den äußeren Erwartungen andererseits. Wenn wir unsere eigene Berufsbiografie reflektieren, so stellen wir normalerweise fest, dass der Anteil zutiefst eigener Handlungsimpulse im beruflichen Handeln eher gering ist. Ein großer Teil unserer Zufriedenheit ergibt sich aus der Balance von äußeren Erwartungen und eigenen Bedürfnissen.

Aus pädagogischer Sicht ist intrinsische Motivation im Übergang nur bedingt interessant. Interessanter ist häufig die Frage, wie wir mit extrinsischer Motivation umgehen, die immer auch ein Teil unseres Lebens ist.

 

Der "heimliche Lehrplan" der Schule sieht vor, dass Kinder ihr Handeln mit zunehmendem Alter auf Ziele richten und ihre intrinsischen Bedürfnisse nach Spiel und Spontaneität regulieren – das Erleben von Fremdbestimmtheit und die Regulation extrinsischer Motivation prägt die Bildungsbiografien Jugendlicher früh. Zusätzlich ist es gerade diese Fähigkeit zur Regulation extrinsischer Motivation, die einen Großteil schulischen Erfolgs ausmacht. Extrinsische Motivation ist also nichts grundlegend Schlechtes, sondern der Normalfall des Alltagshandelns in einer standardisierten Leistungsgesellschaft. Der Umgang mit extrinsischer Motivation wird damit zu einer pädagogischen Teilaufgabe. Die Erkenntnis, am Übergang in das Erwerbsleben plötzlich selbst verantwortlich zu sein, nachdem die Schullaufbahn insgesamt als fremdbestimmt erlebt wurde, stellt für viele Jugendliche einen Bruch dar. Insofern müssen Jugendliche im Prozess der Berufsorientierung reflektieren, wie sie innere Bedürfnisse und äußere Erwartungen moderieren, um sich dabei als selbstbestimmt zu erleben.

Anerkennung

Anerkennung ist mehr als Gelobt-Werden. Anerkennung beschreibt alle Prozesse der Bestätigung unseres Selbst durch Andere; die Erfahrung, dass unsere Bedürfnisse anerkannt werden, wodurch wir erst zu einem Selbst werden. Wir entfalten in der frühen Kindheit unsere Autonomie, wenn unsere Eltern oder engsten Bezugspersonen uns zur Autonomie auffordern, gleichzeitig aber unseren Unterstützungsbedarf anerkennen. Später im Leben erfahren Kinder und Jugendliche, dass sie einen Beruf nur unter bestimmten Bedingungen ergreifen können und die soziale Positionierung über den Beruf von aufeinander aufbauenden, allgemein anerkannten Leistungen abhängt – etwa von Klassenarbeiten, Schulabschlüssen und dem Aufbau spezifischer Fähigkeiten.

Die soziale Position wird in modernen Gesellschaften durch Leistung vergeben. Was als Leistung anerkannt wird, ist Gegenstand konstanter gesellschaftlicher Aushandlungen. Die Familie als sozialer Raum, in dem ein Habitus ausgebildet wird, produziert hierbei eine Nähe zu bestimmten sozialen Räumen wie dem Handwerk oder der höheren Bildung. Sie produziert auch spezifische Vorlieben darüber, was in der Familie anerkannt wird. Entsprechend erleben Kinder und Jugendliche gesellschaftliche Anerkennungsräume als entweder offen und begehbar oder verstellt und unwägbar.

Anerkennung ist mehr als Gelobt-Werden. In Anerkennungsbeziehungen werden wir zum handelnden Subjekt.

 

In den sozialen Räumen werden Individuen zu Subjekten, weil sie durch Anerkennung eine Bestätigung ihrer Subjektivität erfahren – als leistungsfähige Schülerin, als "Zappelphilipp", als "die Brave". Anerkennung ist also weder gut noch schlecht, sie ist der Modus der Ausprägung eines Selbst im Kontakt mit Anderen. Menschen können ihre Freiheit nur in dem Maße nutzen, in dem sie durch Andere darin anerkannt werden. Die Reflexion von Anerkennungsbeziehungen bedeutet, dass wir uns selbst sowohl in unserer Leistungsfähigkeit als auch in unserer Subjekt-Werdung reflektieren.

Im Berufsorientierungsprozess lernen Jugendliche, Anerkennungsbeziehungen zu reflektieren und sie lernen zu ermitteln, welche sozialen Räume, also auch Betriebe und Bildungsinstitutionen, für sie zu Räumen der Anerkennung ihrer Subjektivität werden können.

Auch Missachtung gehört zur Reflexion von Anerkennungsbeziehungen, also Erfahrungen der Diskriminierung, der Marginalisierung und des Abgehängt-Seins. Die Erfahrung, aufgrund eines nicht deutsch klingenden Vornamens, aufgrund von Symbolen der Religionszugehörigkeit wie einem Kopftuch, aufgrund des Geschlechts oder sexueller Ausrichtung in seiner beruflichen Wahlmöglichkeit eingeschränkt zu sein, erschwert den Aufbau erwerbsbiografischer Selbstverantwortung zwangsläufig. Diskriminierungserfahrungen schränken das Erleben von Handlungsspielräumen ein, die für den Aufbau von Kompetenz elementar sind.

Kompetenzentwicklung: Reflexive Handlungsfähigkeit

Der Begriff der reflexiven Handlungsfähigkeit stellt laut KomNetz eine Erweiterung des Konzepts der beruflichen Handlungskompetenz als "Handlungsvermögen dar, das sich prinzipiell aus den sich wechselseitig bedingenden Faktoren einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz, Arbeits- und Lernbedingungen und individuellen Dispositionen zusammensetzt". Jugendliche im Übergang müssen – wie nahezu alle Erwerbstätigen – Anforderungen der Erwerbssphäre kritisch hinterfragen und sich dabei eigener Entscheidungskriterien bewusst werden, also strukturelle Bedingungen der Außenwelt und Bedingungen des eigenen Selbst wahrnehmen und reflektieren. Um eine reflexive Handlungsfähigkeit oder auch Handlungskompetenz aufzubauen, müssen Menschen sich in ihrem Handeln als wirksam erfahren. Hierzu wiederum benötigen sie eine positive Vorstellung davon, worauf sie ihre Selbstwirksamkeit richten wollen. Sie müssen eine Art individueller Betroffenheit erleben – es muss für sie um etwas gehen.

Kompetenz entsteht, wenn Menschen ein Gefühl von Betroffenheit empfinden und sie gleichzeitig Handlungsspielraum erleben.

 

Zusätzlich benötigen sie Handlungsspielräume, also ein gewisses Maß an individueller Entscheidungsfreiheit, um die Konsequenzen ihres Handelns überhaupt auf ihre eigene Kompetenz beziehen zu können. Jugendliche, die seit der frühen Kindheit vielfältige Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit machen konnten – im Sportverein, bei der Umsetzung eigener Projekte, im Rahmen der Familie, in Bildungsinstitutionen – haben es leichter, neue Erfahrungsräume als potenzielle Kompetenz-Entwicklungsräume anzunehmen und sich Herausforderungen zu stellen. Die Ermöglichung und Reflexion von Wirksamkeit ist daher ein bedeutsamer Teil des Berufsorientierungsprozesses und grundlegende Aufgabe aller Bildungsinstitutionen.

Pädagogische Leitlinien zur Begleitung von Übergängen

Zur Entwicklungsaufgabe "erwerbsbiografische Selbstverantwortung" gehört der reflektierte Umgang mit Selbst- und Fremdbestimmtheit, mit Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen und mit Möglichkeiten individuellen Kompetenzaufbaus. Diese Aufgabe kann nicht linear abgearbeitet werden, sie besteht aus vielen kleinen und größeren Erfahrungen, Reflektionen und Gesprächen, deren Wirkung und Einfluss sich nur schwer kontrollieren lässt. Die Aufgabe Erwachsener bei der Begleitung von Übergängen besteht also vor allem in der Unterstützung von Reflexionen.

Ergebnis derartiger Reflexionen mit Jugendlichen kann immer auch sein, dass diese sich nicht zu einem Übergang in der Lage fühlen. Pädagogische Begleitung ernst zu nehmen bedeutet, offen mit diesen Vorbehalten und den zahlreichen möglichen Hindernissen umzugehen, die längerfristig geplante biografische Schritte vorerst verhindern. Die Begleitung von Übergängen soll die vielfältigen Einflussgrößen beruflicher Entwicklung reflektierbar machen und Jugendliche für Gelegenheiten und Möglichkeiten einer selbstbestimmten Erwerbsbiografie sensibilisieren. Jugendliche werden dabei bestenfalls ermutigt, begünstigende Faktoren eigener Wünsche herbeizuführen und sich gegebenenfalls Unterstützung zu suchen.

Übergänge pädagogisch zu begleiten heißt, konsequent die Sicht der Betroffenen einzunehmen.

 
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Die pädagogische Begleitung von Übergängen folgt also nicht einem durch die Bedingungen des Arbeits- und Ausbildungsmarktes strukturierten Vermittlungsziel. Sie folgt eher einer sozialpädagogischen Logik der Orientierungen an den Bedürfnissen, Wünschen, Zielen, Erfahrungen und Begrenzungen des Subjekts und einem Fokus auf sich bietende Gelegenheiten. Die allermeisten Jugendlichen wollen sich weiterentwickeln und wissen, dass Erwerbsarbeit ein Teil dieser Weiterentwicklung sein wird. Welche Entwicklungsschritte oder -sprünge aber wann möglich sind, ist sehr individuell.

Erwerbsbiografische Selbstverantwortung wird begünstigt, indem der Reflexion von Selbstbestimmtheit, Anerkennungsbeziehungen und Handlungsfähigkeit ein kommunikativer Raum gegeben wird. Die Kommunikation in diesem Raum zeichnet sich durch eine Reihe an Qualitäten aus, die sich aus dem theoretischen Rahmen erwerbsbiografischer Selbstverantwortung ergeben:

  • Offenheit
    Die pädagogische Begleitung pflegt einen offenen Umgang mit Anforderungen der Erwerbsarbeit, auch als Bedrohung des jugendlichen Status Quo. Diese Offenheit ermöglicht es Jugendlichen, selbstbestimmte Überlegungen darüber anzustellen, welche Veränderungen für sie auf dem Weg von der Schule in Ausbildung und Erwerbsarbeit gangbar sind und welche Vorstellungen innere Widerstände auslösen.
  • Anerkennungssensible Aushandlung
    Sie verschweigt nicht, dass in einer leistungsbezogenen Gesellschaft verallgemeinerbare Erfolgskriterien und deren Anerkennung den bildungs- und erwerbsbiografischen Werdegang mitbestimmen. Nicht die Formulierung "Du kannst alles werden, wenn du es nur willst!", sondern die Frage "Was könntest du verändern, ohne dich selbst aus dem Blick zu verlieren?" steht für eine anerkennungssensible Aushandlung zwischen individuellen Zielen und erlebten Handlungsspielräumen.
  • Einbeziehung von Bezugspersonen
    Sie thematisiert, welche Bedeutung Menschen im persönlichen Umfeld in welcher Form für die individuellen Übergangsentscheidungen haben. Diese Entscheidungen werden dann tragfähig, wenn sie durch die bedeutsamen Bezugspersonen Jugendlicher – vor allem Eltern, Verwandte und Peers – mitgetragen, also anerkannt werden.
  • Einbeziehung der Ressourcen Jugendlicher
    Sie lenkt den Blick auf bereits vorhandene Ressourcen, die Jugendliche in den Übergangsprozess einbringen. Hierzu gehören materielle Ressourcen wie die finanzielle Absicherung in Qualifizierungsphasen, soziale Ressourcen wie zum Beispiel Unterstützung und Beistand, aber auch personale Ressourcen wie individuelle Eigenschaften.
  • Anerkennung der Legitimität individueller Werte
    Sie betont die Legitimität individueller Werte für die Entwicklung eines positiven Zukunftsszenarios und verzichtet auf Bewertungen individueller Situationsdeutungen. Familien prägen mit ihren Werten, Normen und Gewohnheiten auf sehr unterschiedliche Weise die Orientierungen Jugendlicher. Bisweilen widersprechen diese Orientierungen und die Entscheidungen, die daraus folgen, unseren Vorstellungen von einer tragfähigen biografischen Planung. Die Entscheidungen Jugendlicher zu delegitimieren, kann aber bedeuten, Jugendliche in ein Dilemma zwischen familial geprägten Werten und Normen und unseren Empfehlungen zu bringen. Dennoch ist es natürlich pädagogisch sinnvoll, Jugendliche zur Reflexion ihrer Deutungen einzuladen und gegebenenfalls alternative Deutungsangebote zu erarbeiten. Es geht hier eher darum, interessierte Fragen zu stellen, die Jugendliche nicht in Rechtfertigungsdruck bringen, als Ratschläge zu erteilen.
  • Ergebnisoffene Aushandlung
    Sie stärkt Aushandlungen mit "signifikanten Anderen", also vor allem Eltern und Peers und schafft kommunikative Räume, in denen offene Fragen der Gestaltung von Biografie ergebnisoffen thematisiert werden können. In institutionellen Settings bieten sich hierfür Gruppendiskussionen oder "World Cafés" an, in denen Lehrkräfte zwar ein Thema anbieten, die Diskussion darüber aber Jugendlichen überlassen.

Begleitung von Übergängen anhand digitaler Tools

Aktuell ist das Thema Künstliche Intelligenz sehr präsent. Algorithmen können Jugendliche an gewissen Stellen sicherlich bei der beruflichen Entscheidungsfindung unterstützen. Die Entwicklung von Anwendungen für die Begleitung von Übergängen folgt im Kontrast der Überzeugung, das tragfähige biografische Entscheidungen auf tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehungen basieren. Ein ergebnisoffenes "Sprechen über" im bewertungsfreien Raum ermöglicht die Bewusstwerdung subjektiver Orientierungen und Beweggründe des Handelns. Dieses "Sprechen über" kann durch digitale Begleitangebote unterstützt werden.

Digitale Tools für Jugendliche sollten auf eine schrittweise Reflexion derjenigen individuellen Beweggründe und Kontextfaktoren zielen, die das Entscheidungshandeln prägen – nicht auf sprunghafte Selbsterkenntnis. So verstanden haben sie viele Gemeinsamkeiten mit traditionellen Reflexionsmethoden; sie sind Stützstrukturen gelingender pädagogischer Kommunikation. Sie erweitern diese pädagogische Kommunikation aber um Vorteile der digitalen Verfügbarkeit und schließen an Mediennutzungsgewohnheiten der Jugendlichen an. Der Einsatz von Tools im pädagogischen Setting bedarf einiger Vorüberlegungen darüber, wie sie sinnvoll genutzt werden können.

Digitale Tools erweitern die pädagogische Kommunikation und docken an der Mediennutzung junger Menschen an.

 

Interaktivität herstellen

Interaktivität entsteht nicht bei allen Tools aus der Anwendung selbst heraus. Wenn Jugendliche etwa zur Auswahl von Items aus einer Liste und zur Sortierung ihrer Wahl aufgefordert werden, so kann eine Atmosphäre entstehen, in der alle Jugendlichen mit ihren Smartphones beschäftigt sind und wenig Interaktion stattfindet. Hier kann es sinnvoll sein, während die Jugendlichen an der Aufgabe arbeiten, darüber zu sprechen, warum Sie die die Übung sinnvoll finden, den Jugendlichen anbieten, Fragen zu einzelnen Items zu stellen oder auch eine Diskussion über einzelne Inhalte zulassen und ermutigen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Vielleicht laden Sie die Jugendlichen auch bei verschiedenen Arbeitsschritten ein, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen, dann Fragen zu stellen, gegebenenfalls einzelne Inhalte zu diskutieren und erst danach die Aufgabe tatsächlich zu bearbeiten.

Freiwilligkeit

Pädagoginnen und Pädagogen erwarten bisweilen von digitalen Anwendungen, dass Jugendliche sich per se gern damit beschäftigen. Für den ersten Impuls mag das zutreffen, allerdings sind es letztlich immer die Medieninhalte, die Jugendliche fokussiert halten oder eben nicht. Im Fall von Berufsorientierung und dem Einsatz entsprechender Anwendungen kann es sein, dass das Thema selbst bei Jugendlichen zunächst Widerstände und Vorbehalte auslöst. Daher kann es sinnvoll sein, vor dem Einsatz einer Anwendung kurz einzuführen, worum es geht und warum Sie die Anwendung wählen, was Sie also mit den Jugendlichen vorhaben. Auf Überraschungseffekte zu setzen ist im Umgang mit diesem für die Jugendlichen teilweise angstbesetzten Thema eher riskant. Sie können auch zur Einführung in das Thema einen Zeitstrahl aufzeichnen, verbunden mit der Frage, wann ein guter Zeitpunkt im Leben sein könnte, in einen Beruf einzusteigen. Im Anschluss daran kann die Frage folgen, wann man wohl beginnen sollte, sich damit zu beschäftigen, welcher Beruf oder welches Lebensmodell passen könnte. Entsprechend der Antworten können Sie thematisieren, dass eine Beschäftigung mit sich selbst ein Ausgangspunkt der Beschäftigung mit einem Beruf ist und dass die Beschäftigung mit sich selbst nicht automatisch die Berufswahl nach sich zieht.

Die Expertise Jugendlicher

Für viele von uns, insbesondere die so genannten "digital Immigrants", gilt: Es wird in nahezu jeder Gruppe, mit der Sie digital gestützt arbeiten, Jugendliche geben, die eine Anwendung blitzschnell verstehen und gegebenenfalls nach "Easter Eggs", also unerwarteten oder unbeabsichtigten Anwendungsmöglichkeiten suchen. Gehen Sie offen damit um, dass die Jugendlichen die Anwendung und ihre Möglichkeiten wahrscheinlich schneller durchdringen als Sie und fordern Sie die Jugendlichen auf, Ihnen Hinweise zu geben, was man alles mit der Anwendung und den Ergebnissen machen kann. Der offene Umgang mit den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation steht für den Handlungsspielraum, den Jugendliche erfahren müssen, um sich als kompetent zu erleben. Vielleicht fragen Sie die Jugendlichen auch, ob sie Apps oder Anwendungen des Smartphones kennen, anhand derer sie etwas über sich selbst erfahren haben.

Von Medienkonsum zu Medienbildung

Die Art und Weise, wie Jugendliche Medien nutzen, ist divers. Manche Jugendliche erfahren digitale Medien früh als Raum von Gestaltung, Teilhabe und Kreativität, andere erfahren Medien eher anhand ihres Unterhaltungswertes, in kurzweiligen Games oder Filmen. Digitale Anwendungen können das Potenzial entfalten, Jugendlichen neue Facetten des Umgangs mit Smartphones anzubieten, zum Beispiel neue Recherchemöglichkeiten, neue Möglichkeiten der Organisation des Alltags, neue Möglichkeiten des Austauschs mit Anderen. Wir möchten anregen, dass Sie in einen offenen und bewertungsfreien Austausch mit Jugendlichen über ihre Nutzungsgewohnheiten treten, bei dem Sie von den Jugendlichen und die Jugendlichen von Ihnen einiges darüber erfahren können, wie digitale Angebote über kurzweilige und eskapistische Nutzungen hinaus ein Medium der Information, der Teilhabe und der Bildung sein können.

Künstliche Intelligenz

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In den vergangenen Monaten hat das Thema Künstliche Intelligenz (KI) viel Aufmerksamkeit erfahren. Wenn Sie bei einem der gängigen Chatbots fragen "Welchen Beruf soll ich ergreifen?" oder "Was soll ich tun, wenn meine Eltern den Beruf doof finden, für den ich mich interessiere?", erhalten Sie ähnliche Antworten, wie wir sie vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen und Werte womöglich formulieren würden. Tatsächlich bündelt eine KI wissenschaftliche Erkenntnisse, Informationen über menschliche Erfahrungen und gängige Praxis und ist insofern eine Reproduktion dessen, was Menschen schreiben, denken und tun. Eine KI kann aber keinen individuell bedeutsamen Zusammenhang von Erfahrungen und Gefühlen herstellen. Insofern kann eine künstliche Intelligenz im Umgang mit erwerbsbiografischen Fragen eine sinnvolle Ergänzung sein, weil sich in ihr Erwartungshaltungen und Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft spiegeln. Wir können mit Jugendlichen darüber ins Gespräch gehen, inwiefern wir den Erklärungen der KI folgen, was ihre Darstellungen emotional bei uns auslösen und welche Schlüsse wir daraus ziehen.

Fazit

Entscheidend für den Austausch über erwerbsbiografische Entwicklungsperspektiven ist das situative Gespür von Pädagoginnen und Pädagogen, welche Themen Jugendliche im Übergangsraum wann beschäftigen und welche Möglichkeitsfenster für welche Entwicklungen sich wann öffnen. Die digital gestützte Begleitung von Übergängen bedeutet nicht, einen Algorithmus oder eine künstliche Intelligenz mit Daten zu füttern und dann einen Berufs- oder Ausbildungsvorschlag zu erhalten. Hierfür braucht es vielmehr eine tragfähige Beziehungsarbeit, bei der Pädagoginnen und Pädagogen die wechselseitigen Beziehungen im Übergangsraum berücksichtigen, reflektierbar machen und moderieren.

Die Reflexionsmodule der Fachstelle überaus sind ein Beispiel für die Entwicklung von Tools, die der Leitidee ergebnisoffener Reflexionen erwerbsbiografischer Selbstverantwortung folgen. Alle Module sind spielerisch-interaktiv aufgebaut und können ohne Einführung oder Tutorial gestartet werden. Auch die Möglichkeit, eigene Ergebnisse mit Anderen über die Nutzung der Mobilgeräte zu teilen – sei es im pädagogischen Kontext oder im sozialen Umfeld – ist integriert und stärkt potenziell die Auseinandersetzung und Beziehungsarbeit.

Weitere Informationen

  • überaus: Reflexionsmodule
    Kleine Helfer für den Weg in die Eigenständigkeit - die Reflexionsmodule sollen die Selbstreflexion der Jugendlichen zu eigenen Vorstellungen und Rahmenbedingungen anregen.

Literatur zu "Grundlagen eines emanzipierten Umgangs mit Übergängen"

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht, Online-Publikation.

Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39. Jg., S. 223–238.

Dehnbostel, Peter/Elsholz, Uwe/Gillen, Julia (2007): Konzeptionelle Begründungen und Eckpunkte einer arbeitnehmerorientierten Weiterbildung. In: Dehnbostel, Peter/Elsholz, Uwe/Gillen, Julia (Hrsg.): Kompetenzerwerb in der Arbeit. Perspektiven arbeitnehmerorientierter Weiterbildung. Berlin: Edition Sigma, S. 13–27.

Honneth, Axel (2012): Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

KomNetz (2006): Glossar. Handlungshilfe des Projektes „Kompetenzentwicklung in vernetzten Lernstrukturen“ (3. und überarbeitete und erweiterte Auflage, hrsgg. vom Projekt KomNetz). Hamburg.

Lorenzen, Jule-Marie/Schmidt, Lisa-Marian (2015): Wissen im Übergangsraum. Schulische und außerschulische Maßnahmen der Übergangsvorbereitung aus wissenssoziologischer Perspektive. In: Dietzen, Agnes/Powell, Justin J. W./Bahl, Anke/Lassnig, Lorenz (Hrsg.): Soziale Inwertsetzung von Wissen, Erfahrung und Kompetenz in der Berufsbildung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 300–319.

Neises, Frank/Weiß, Ulrich (2023): Jugend zwischen Aufbruch und Stagnation. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP) 2/2023, S. 40-43.

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