09.07.2025 | Redaktion | Deutsches Ärzteblatt
Dunkelfeldstudie sexualisierte Gewalt
Erste bundesweite und repräsentative Studie veröffentlicht
In einer ersten bundesweiten und repräsentativen Studie ist die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht worden. Außerdem werden auch die Kontexte der Taten sowie deren Folgen beschrieben. Die Ergebnisse zeigen, dass das Ausmaß von Missbrauch in Deutschland erheblich ist und differenzierte Präventionskonzepte erforderlich macht.
Dunkelfeldforschung |
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Dunkelfelduntersuchungen haben das Ziel, Erkenntnisse über das Gesamtaufkommen bestimmter Straftaten zu gewinnen, einschließlich des sogenannten (relativen) Dunkelfeldes, also Straftaten, die bei der Polizei nicht bekannt sind. |
Seit vielen Jahren wird kritisiert, dass es keine wissenschaftlich verlässlichen Daten zum Ausmaß sexualisierter Gewalt in Deutschland gibt. Nach wie vor ist neben dem tatsächlichen Ausmaß auch zu wenig über die genauen Tatkontexte bekannt, um gezielt und effektiv vorbeugen zu können. Deshalb hat das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim zusammen mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg die erste deutschlandweite, repräsentative Studie durchgeführt.
Zusammen mit infratest-dimap wurde eine repräsentative Stichprobe der 18- bis 59-jährigen deutschen Bevölkerung erhoben. Die Befragung selbst wurde als Kombination aus schriftlich-postalischer und Online-Befragung gestaltet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden in einem Anschreiben informiert, dass Daten über das Ausmaß sexualisierter Gewalt erhoben werden sollen. Der Befragung lag ein strukturierter Fragebogen zugrunde, der sich aus etablierten und international verwendeten sowie selbst entwickelten Instrumenten zusammensetzte.
Durchführung der Studie
- Definition des Studienthemas
Sexualisierte Gewalt wurde wie folgt definiert: Jede Handlung mit sexuellem Bezug, die gegenüber Personen unter 14 Jahren oder gegen den Willen einer Person unter 18 Jahren geschieht. Dies umfasst jegliche Handlungen mit und ohne Körperkontakt, zum Beispiel sexuelle Belästigung, sexuelle Nötigung bis hin zu versuchtem und vollzogenem Eindringen in den Körper. - Repräsentative Stichprobe
Insgesamt wurden 10.000 Personen schriftlich kontaktiert, von denen 3.016 an der Befragung teilnahmen. Das entspricht einer Rücklaufquote von 30,2 Prozent. In der Gesamtstichprobe waren 49,0 Prozent der Befragten weiblich, das Durchschnittsalter lag bei 39,9 Jahren. Die Stichprobe war hinsichtlich des Geschlechts und des Alters repräsentativ für die gewählte Alterskohorte der deutschen Bevölkerung. Die Gesamtzahl der von sexualisierter Gewalt Betroffenen betrug 12,7 Prozent. Davon waren 54,1 Prozent einmal von sexualisierter Gewalt betroffen und 45,9 Prozent mehrmals.
Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Männer sind deutlich häufiger Täter.
Geschlechterverteilung bei den Betroffenen sowie den Tätern und Täterinnen
Frauen waren häufiger sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Die Betroffenenrate lag bei Frauen bei 20,6 Prozent und bei Männern bei 4,8 Prozent. Außerdem gaben 16,4 Prozent der 18- bis 29-Jährigen und 11,5 Prozent der 30- bis 59-Jährigen an, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Eine Differenzierung der beiden Altersgruppen nach Geschlecht ergab zudem, dass in der jüngeren Altersgruppe 27,4 Prozent der Frauen und 5,0 Prozent der Männer angaben, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. In der älteren Altersgruppe waren es 18,8 Prozent der Frauen und 4,2 Prozent der Männer.
Ein Großteil der Betroffenen gab einen männlichen Täter an, 4,5 Prozent der Personen nannten eine Täterin. Etwa jede vierte Person erlebte sexualisierte Gewalt durch eine Person im annähernd gleichen Alter (Peer-Gewalt).
Tatort für Missbrauch ist meistens das familiäre oder private Umfeld. Im institutionellen Umfeld (Kirche, Sportverein) sind Männer häufiger betroffen als Frauen.
Wo Missbrauch stattfindet und die Rolle des Internets

Tatkontexte differenziert nach Geschlecht und Alter bei der Befragung. Bild: Grafik 1 der Studie, ©Autorinnen und Autoren der Studie
Geht es um die Kontexte, in denen sexueller Missbrauch stattfindet, zeigen die Daten, dass Familie und Freundeskreis die am häufigsten genannten Tatkontexte sind.
Allerdings wird sexualisierte Gewalt auch in Institutionen wie der katholischen und evangelischen Kirche (4,2 Prozent) oder in Sportvereinen (8,6 Prozent) und im beruflichen Kontext (8,0 Prozent) ausgeübt. Es zeigte sich, dass Männer häufiger im institutionellen Kontext sexualisierte Gewalt erlebten.
Es zeigte sich auch, dass soziale Medien und Internet viele neue Möglichkeiten geschaffen haben, sexuelle Missbrauchshandlungen zu begehen. Vom Bundeskriminalamt wurden 6.091 Fälle des sexuellen Missbrauchs mit dem Tatmittel Internet für das Jahr 2023 dokumentiert. Die neuen Daten weisen insoweit auf ein großes Dunkelfeld hin. Am häufigsten wurde in der Gesamtstichprobe über ungewollte Kontakte mit sexuellem beziehungsweise pornografischem Inhalt im Internet, über ungewollte Fragen nach sexuellen Informationen und über ungewollte Gespräche mit sexuellen Inhalten berichtet. Die jüngere Altersgruppe berichtet häufiger von einem ausschließlich über das Internet bestehenden Kontakt zum Täter beziehungsweise zur Täterin. Häufigkeit und Dynamik dieser Problematik sind bisher nicht gut untersucht, was es schwierig macht, geeignete Präventionsstrategien zu entwickeln. Die Ergebnisse zeigen aber, dass auch auf diesem Feld die Aufklärungsarbeit und die Entwicklung von geeigneten Präventionskonzepten intensiviert werden muss.
Die Daten zeigen, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Personen seltener in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
Lebenslange Folgen
Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass die gravierenden Folgen sexualisierter Gewalterfahrung schon vielfach beschrieben worden sind. Obwohl sich therapeutische Hilfen in den letzten Jahren verbessert haben, zeigte sich in der Gruppe der Betroffenen eine schlechtere psychische Befindlichkeit, gemessen mit dem WHO-Well-Being-Index. Wie die Daten zeigen, ist sexualisierte Gewalterfahrung unabhängig von der schulischen Bildung; sie kann also jeden treffen. Aber während es hinsichtlich des Schulabschlusses keine Gruppenunterschiede zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen gab, zeigten sich Unterschiede hinsichtlich des beruflichen Bildungsabschlusses und der Finanzierung des Lebensunterhalts. Von sexualisierter Gewalt betroffene Personen waren seltener in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
Viele Betroffene nehmen Hilfsangebote nicht in Anspruch, weil sie sich schämen oder sich sorgen, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Differenzierte Präventionskonzepte erforderlich
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass ein erhebliches Dunkelfeld existiert. Einige Erkenntnisse, wie die zu den unterschiedlichen Tatkontexten, zeigen die Notwendigkeit differenzierter Schutzkonzepte sowohl bezüglich der Schutzbefohlenen als auch im Hinblick auf potenzielle Täterinnen und Täter. Besorgniserregend ist das geringe Wissen von Betroffenen und Nicht-Betroffenen über Hilfsangebote. Die in dieser Studie ermittelten Zahlen sind zwar höher als in der 2021 durchgeführten Forsa-Umfrage, jedoch wurde bereits die grundsätzliche Kenntnis über Hilfsangebote positiv gewertet. So weisen die aktuell vorliegenden Daten darauf hin, dass auch die Aufklärungsbemühungen verstärkt werden sollten. Außerdem zeigt sich, dass selbst bei vorhandenem Wissen um mögliche Hilfsangebote viele Betroffene sie nicht in Anspruch nehmen, weil sie Schamgefühle haben oder die Sorge, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Weitere Informationen
- Ärzteblatt: Original der Studie in englischer Sprache
Harald Dreßing, Andreas Hoell, Leonie Scharmann, Anja M. Simon, Ann-Christin Haag, Dieter Dölling, Andreas Meyer-Lindenberg, Joerg Fegert: Sexual Violence Against Children and Adolescents: A German Nationwide Representative Survey on Its Prevalence, Situational Context, and Consequences. Dtsch Arztebl Int 2025; 122: 285–91. DOI: 10.3238/arztebl.m2025.0076. - Ärzteblatt: Deutsche Version der Studie
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Eine bundesweite, auf Repräsentativität ausgelegte Befragung zu Prävalenz, situativem Kontext und den Folgen.