12.11.2025

Neue Wege für schulmüde Jugendliche

Mit Vertrauen und Begleitung Chancen eröffnen und Übergänge positiv gestalten

von Stephanie Warkentin

Wenn Jugendliche regelmäßig den Unterricht versäumen oder der Schule ganz fernbleiben, wirkt sich das langfristig aus. Fehlzeiten beeinträchtigen nicht nur die schulischen Leistungen, sondern erschweren auch den Einstieg in Ausbildung und Beruf – mit Konsequenzen für den weiteren Lebensweg. Das Projekt "Schule – ohne mich?!" von IN VIA Deutschland setzt genau hier an. Es untersucht, wie Fachkräfte schulmüde Jugendliche erreichen, Vertrauen aufbauen und sie im Übergang von der Schule in den Beruf begleiten können. Ein Praxis-Workshop zeigt: Der Aufbau stabiler Beziehungen ist entscheidend für gelingende Bildungswege.

Wissenschaft und Praxis beobachten seit einigen Jahren eine deutliche Zunahme des Phänomens Schulabsentismus. Das zeigt zum einen eine Studie, die die Unterrichtsabwesenheit bei 15-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren untersucht hat.(1) Zum anderen registrierten Lehrkräfte besonders während der Corona-Pandemie einen starken Anstieg und zwar vor allem an Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien (2).

Besser als Schule? Abhängen im Einkaufszentrum. Bild:  Nomad_Soul | Adobe Stock

Schulabsentismus, so heißt es in einem Beitrag für die Zeitschrift "dreizehn" (3) tritt besonders häufig zu Beginn der Schulzeit sowie beim Übergang auf weiterführende Schulen auf, mit einem Höhepunkt in der 8. Klasse.
In fast 70 Prozent der Fälle werden familiäre Probleme als Ursache oder Mitursache genannt. Eine weitere Studie weist darauf hin, dass etwa ein Prozent der Grundschulkinder ohne krankheitsbedingte Entschuldigung dem Unterricht fernbleibt; in der 8. Jahrgangsstufe liegt dieser Anteil bereits bei vier Prozent (4). Zuverlässige und vergleichbare statistische Daten zum Ausmaß von Schulabsentismus liegen bislang nur in begrenztem Umfang vor. Denn sowohl Bundesländer als auch Schulen haben unterschiedliche rechtliche Verordnungen, verschiedene Definitionen und eigene Erhebungsmethoden, – sofern Schulabwesenheiten überhaupt systematisch dokumentiert werden.

Zuverlässige und vergleichbare statistische Daten zum Ausmaß von Schulabsentismus liegen bislang nur in begrenztem Umfang vor.

 

Die Fachliteratur liefert verschiedene Ansätze zur Definition von Schulabsentismus. Als "Fehlen im Unterricht in allen Erscheinungsformen" (5) beschreibt die Erziehungswissenschaftlerin Christine Sälzer grundsätzlich den Schulabsentismus. Konkret unterscheidet sie zwischen folgenden Arten (6):

SchulschwänzenBeim Schulschwänzen bleiben Jugendliche ohne das Wissen der Erziehungsberechtigten dem Unterricht fern. Stattdessen halten sie sich mit Freund*innen an Orten auf, die für sie im Moment spannender oder angenehmer wirken als die Schule – zum Beispiel in Einkaufszentren oder auf Spielplätzen.
SchulverweigerungBei der Schulverweigerung wissen die Eltern oder Sorgeberechtigten in der Regel Bescheid. Der Hintergrund ist oft, dass die Jugendlichen mit Ängsten zu kämpfen haben – zum Beispiel vor Prüfungen, Mobbing oder vor schwierigen sozialen Situationen in der Schule. Diese Ängste wirken so belastend, dass sie den Schulbesuch unmöglich erscheinen lassen.
SchuldistanzBei der Schuldistanz handelt es sich um eine besonders extreme Form der Schulverweigerung. Hier ist der Kontakt zur Schule bereits abgebrochen oder steht kurz davor, ganz verloren zu gehen. Die Jugendlichen haben so viel Unterricht verpasst, dass ein Wiedereinstieg schwerfällt. Oft zweifeln sie grundsätzlich an Schule als Institution oder daran, ob sie dort überhaupt einen Platz haben.

Risikofaktor: Belastungen im schulischen Umfeld

Das Phänomen hat viele Ursachen und kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Ein mangelndes Wohlbefinden oder belastende Erfahrungen in der Schule können eine Ursache für schulabsentes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen sein (7). Die Ergebnisse des jüngsten "Deutschen Schulbarometers Schüler:innen" aus dem Jahr 2024 zeigen, dass das psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen weiterhin deutlich unter dem Niveau vor der Corona-Pandemie liegt:

  • Ein Viertel der Jugendlichen schätzt die eigene Lebensqualität als niedrig ein.
  • Rund ein Fünftel der Befragten fühlt sich psychisch belastet.
  • Ebenso viele klagen über ein geringes schulisches Wohlbefinden, bei Kindern aus einkommensschwachen Familien ist fast jedes dritte Kind betroffen.

Zu den Hauptsorgen der Jugendlichen gehören die Kriege in der Welt, der Leistungsdruck in der Schule, die globale Klimakrise und die Ängste vor der eigenen Zukunft. Gleichzeitig zeigen weitere aktuelle Studien, dass die Abgangsquote junger Menschen ohne mindestens einen ersten Schulabschluss (Hauptschulabschluss) konstant hoch bleibt. Laut Bildungsbericht 2024 stieg sie sogar von 5,7 Prozent im Jahr 2013 auf 6,9 Prozent im Jahr 2022 (8).

Unabhängig von der individuellen Ausprägung steht jedoch fest, dass schulvermeidendes Verhalten gravierende Folgen für die gesamte Lebensgestaltung junger Menschen haben kann. So "korreliert Schulabsentismus mit vorzeitigen Schulabbrüchen, dem Verlassen der Schule ohne Schulabschluss, einem höheren Risiko von Arbeitslosigkeit und prekären Lebenslagen" (9). Nachweislich schwächt also eine mangelnde schulische Teilhabe das gesunde Aufwachsen junger Menschen zu einer selbstbestimmten, zufriedenen Persönlichkeit. Isolation, psychische Belastungen bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen können die Folge sein. Aber auch der berufliche Weg und damit die Chancen auf ein auskömmliches Leben der jungen Menschen sind in Gefahr.

Unabhängig von der individuellen Ausprägung steht fest, dass schulvermeidendes Verhalten gravierende Folgen für die gesamte Lebensgestaltung junger Menschen haben kann.

 

Bundesweites Projekt: Praxiserfahrungen und Gelingensbedingungen erfassen

Konzepte und Beispiele zum Umgang mit Schulabsentismus zeigen, dass Maßnahmen, die ein einheitliches, kooperatives und transparentes Vorgehen verfolgen, besonders erfolgreich sind (10). Schulen können aktiv gegen Absentismus vorgehen, indem sie eine klare Haltung dazu entwickeln und diese konsequent vertreten. Zugleich ist es hilfreich, wenn die Schule für Schüler*innen ein Ort ist, an dem sie ein tragfähiges Netzwerk an Ansprechpersonen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten vorfinden.

Jugendsozialarbeit wird auch vorbeugend tätig. Bild: fotoduets | Adobe Stock

Eine zentrale Rolle kommt dabei der schulbezogenen Jugendsozialarbeit sowie der Schulsozialarbeit gemäß §§ 13 und 13a SGB VIII zu. Als Teil multiprofessioneller Teams sind diese Fachkräfte gerade durch ihre Unabhängigkeit und ihre Jugendhilfeorientierung wertvolle Ansprechpartner*innen für junge Menschen, die sich in herausfordernden Lebenssituationen befinden und Unterstützung benötigen. Das Engagement beschränkt sich nicht darauf Maßnahmen zu ergreifen, wenn Schülerinnen dem Schulsystem bereits den Rücken gekehrt haben. Vielmehr leisten sie auch wichtige vorbeugende Arbeit, indem sie gezielt die Ursachen schulvermeidenden Verhaltens ansprechen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass der Umgang mit Schulabsentismus herausfordernd bleibt, da er stark von den jeweiligen Umständen abhängt und daher keine einheitliche Vorgehensweise zulässt.

Das Projekt "Schule – ohne mich?! Neue Entwicklungen und Handlungsanforderungen bei Schulabsentismus", wird von IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) durchgeführt. Es zielt darauf ab, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Umgang mit Schulabsentismus zu bündeln und auf Grundlage von Recherchen, Abfragen und Workshops einen Leitfaden als Arbeitshilfe für die Praxis der Jugendsozialarbeit zu erstellen. In einem von mehreren Praxis-Workshops im Projekt stand das Thema "Beziehungsgestaltung" im Mittelpunkt.

Ziel des Projekts ist es, einen Leitfaden als Arbeitshilfe für die Praxis der Jugendsozialarbeit zu erstellen.

 

Ansätze und Erfolgsfaktoren verschiedener Initiativen, Projekte und Maßnahmen der Jugendhilfe – insbesondere der Jugendsozialarbeit wurden vorgestellt. Neben drei Impulsen aus der Praxis setzten sich die Teilnehmenden mit der Frage auseinander, welche Haltung, Kompetenzen und Rahmenbedingungen Fachkräfte brauchen, um junge Menschen wirksam zu erreichen, langfristig begleiten zu können und Vertrauen aufzubauen.

Aktiv gegen Schulverweigerung – Beispiele aus der Praxis

  • Caritas Ludwigsburg-Waiblingen-Enz: Projekt Oktopus
    Das Projekt Oktopus unterstützt Schüler:innen bei allen Formen der Schulverweigerung und Konflikten mit der Schule. Die Jugendlichen erhalten Hilfe, um wieder am Unterricht teilzunehmen und ihren Schulabschluss zu schaffen.
    Die "Jugensozialarbeit News" haben Lierin Hanika vom Projekt Oktoppus der Caritas Ludwigsburg-Waiblingen-Enz interviewt. Den Link finden Sie unter "Weitere Informationen" auf dieser Seite (Website jugendsozialarbeit.news).
  • Website Schulverein Wirbelwind e.V., Rostock
    Das Projekt Kompass – Lernwege aufzeigen richtet sich an Schüler:innen in der Orientierungsstufe. Ziele sind der Verbleib im Regelschulsystem, das Schaffen eines positiven Lernumfelds und die Stärkung sozialer Kompetenzen, um schulmeidendem Verhalten entgegen zu wirken.
    Die "Jugensozialarbeit News" haben Anne Schentz vom Schulverein Wirbelwind e. V. aus Rostock interviewt. Den Link finden Sie unter "Weitere Informationen" auf dieser Seite (Website der BAG KJS).
  • Waldhaus Jugendhilfe: TRIAS "Schulverweigerung – Die 2. Chance"
    Das Projekt TRIAS – die 2. Chance – hat, nach Übernahme der Finanzierung durch den Landkreis Böblingen, den Auftrag, Schülerinnen und Schülern, die, aus welchen Gründen auch immer, die Schule trotz Verpflichtung, nicht mehr besuchen, pädagogisch zu begleiten.

    Haltung in der sozialpädagogischen Arbeit: Empathie, Geduld und Authentizität

    Der Aufbau tragfähiger Beziehungen ist in der Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen aus verschiedenen Gründen entscheidend. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass schulabsente junge Menschen neben negativen Schulerfahrungen oft Brüche im Vertrauen zu anderen Menschen erlebt haben. Sozialpädagogische Fachkräfte in schulbezogenen Angeboten der Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit eröffnen die Chance, als verbindendes Element zu fungieren – hin zu unterstützenden (Bildungs-)Systemen und tragfähigen Strukturen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Gestaltung stabiler und verlässlicher Beziehungen zu den betroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Dies gelingt vor allem durch den gezielten Vertrauensaufbau sowie durch das konsequente Einhalten von Absprachen, das Verlässlichkeit und Sicherheit vermittelt.

    Die Eltern werden in die Beratung mit einbezogen. Bild: Valerii Honcharuk | Adobe Stock

    Hierbei bedingen bestimmte Haltungen eine gelingende Beziehungsarbeit. In der Arbeit mit jungen Menschen, die sich zunehmend von der Schule distanzieren oder bereits den Anschluss verloren haben, ist es zentral, Empathie, Geduld und Authentizität zu zeigen. Es geht darum, den Kindern, Jugendlichen und ihren Angehörigen zu vermitteln: Ihr werdet ernst genommen. Erst wenn dieses Gefühl entsteht, öffnen sie sich – so berichten es Fachkräfte aus der Praxis. Eine einfühlsame, respektvolle Gesprächsführung auf Augenhöhe ist dabei eine wesentliche Voraussetzung. Grundsätzlich sollte die individuellen Lebensgeschichten, Erfahrungen und Lebenswelten der jungen Menschen mit Wertschätzung und Respekt begegnet werden. Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung braucht Zeit – schnelle Lösungen sind in der Regel weder möglich noch hilfreich.

    Eine ressourcen- und lösungsorientierte Haltung ist handlungsleitend: Der Blick richtet sich gezielt auf die Stärken, Ausnahmen im Problemverhalten und auf Lebensbereiche, in denen sich die Kinder und Jugendlichen als selbstwirksam erleben. Ziel ist es, solche Selbstwirksamkeitserfahrungen zu fördern.

    Der Aufbau tragfähiger Beziehungen ist in der Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen entscheidend. Eine ressourcen- und lösungsorientierte Haltung ist handlungsleitend.

     

    Methodischer Zugang: Kreative und partizipatorische Ansätze

    Die sozialpädagogische Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen erfordert ein breites Spektrum an methodischen Zugängen sowie spezifische fachliche und persönliche Kompetenzen. Während des oben genannten Workshops zur Beziehungsgestaltung wurde hervorgehoben, wie eng diese Aspekte mit den zuvor beschriebenen Haltungen in der sozialpädagogischen Arbeit im Kontext von Schulabsentismus verknüpft sind.

    Wichtig: Eine einfühlsame, respektvolle Gesprächsführung auf Augenhöhe. Bild: Svitlana | Adobe Stock

    Die Methodenvielfalt spielt eine zentrale Rolle in der Beziehungsarbeit – sei es durch kreative Angebote, Spaziergänge, Hausbesuche oder Arbeit im Freien. Niedrigschwellige und aufsuchende Kontaktaufnahmen ermöglichen einen behutsamen Zugang zu den jungen Menschen und ihren Familien. Dabei ist es wichtig, interkulturelle und medienpädagogische Kompetenzen einzubringen, um sensibel auf kulturelle Unterschiede zu reagieren. Inklusives Handeln zeigt sich etwa in der Verwendung einfacher Sprache. Um stabile und verlässliche Beziehungen aufzubauen ist zudem die Fähigkeit, Nähe zuzulassen und gleichzeitig professionelle Distanz zu wahren, von zentraler Bedeutung. Für eine wertschätzende Kommunikation sind insbesondere aktives Zuhören, eine klare und verständliche Sprache sowie die Fähigkeit zur Reflexion unerlässlich.

    In der Praxis zeigt sich, dass schulabsente Kinder und Jugendliche teils Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle und Bedürfnisse verbal auszudrücken.

     

    Kompetenzen des Personals

    In der Praxis zeigt sich, dass schulabsente Kinder und Jugendliche teils Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle und Bedürfnisse verbal auszudrücken. Emotionale Belastungen können sich jedoch in Form von psychosomatischen Beschwerden zeigen. Methoden der Visualisierung und Verbalisierung werden in diesem Zusammenhang von der Praxis als sehr wirksam beschrieben. So können sozialpädagogische Fachkräfte unterstützend eingreifen, indem sie Gefühle und systemische Zusammenhänge für Kinder, Jugendliche und Eltern oder Sorgeberechtigte in Worte fassen und sichtbar machen. Dazu nutzen sie zum Beispiel Gefühlskarten, Schaubilder, Metaphern oder systemische Aufstellungen.

    Gar nicht so einfach: Sagen, was man gerade fühlt. Bild: Rawpixel | Adobe Stock

    Diese Form der Verlagerung nach außen erleichtert es den Beteiligten, über belastende Themen zu sprechen und neue Perspektiven zu entwickeln. Im Alltag hat sich außerdem gezeigt, dass Humor oder auch eine Prise Sarkasmus in manchen Situationen gut Türen öffnen können. Fachkräfte können so eigene Hypothesen unauffällig in Gespräche einfließen lassen – und die Themen werden von den Klient*innen eher aufgenommen. Hilfreich ist auch ein traumapädagogischer Ansatz. Er unterstützt dabei, tieferliegende Belastungen wahrzunehmen und einzuschätzen, ob eine Weiterleitung an spezialisierte Stellen nötig ist. Darüber hinaus brauchen Fachkräfte diagnostisches Wissen und systemisches Denken, um individuelle Problemlagen zu erkennen und passende Fördermöglichkeiten einzuleiten. Nicht zuletzt sind Deeskalationskompetenzen wichtig, damit sie in Konfliktsituationen souverän reagieren und Spannungen wirksam entschärfen können.

    Gestaltung der Angebote

    Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, Angebote partizipativ zu gestalten und junge Menschen strukturell einzubeziehen. Konkret heißt das, gemeinsam ihre Stärken zu entdecken und sie aktiv am Prozess zu beteiligen. In der Praxis bewährt sich dabei die Vereinbarung von kleinschrittigen, realistischen Zielen. So lassen sich Rückschläge vermeiden und Fortschritte sichtbar machen. Entscheidend ist, auch kleine Erfolge bewusst zu würdigen. Etwa wenn Jugendliche den Mut finden, trotz Verspätung noch am Unterricht teilzunehmen, verdient das mehr Anerkennung, als wenn sie einfach zu Hause geblieben wären.

    Besonders hilfreich erweist sich in der Praxis die gemeinsame Vereinbarung von kleinschrittigen, realistischen Zielen, um Misserfolge und Rückschritte möglichst zu vermeiden. Dabei ist es entscheidend, auch kleine Erfolge bewusst zu feiern.

     

    Ebenso hilfreich ist es, regelmäßig Feedback einzuholen. Auch durch Lehrkräfte – etwa mit Fragen wie: Was hilft dir? Was brauchst du? Solches Nachfragen wird oft zum Schlüssel für weitere Schritte, gerade wenn die Fachkraft spürt, dass sie in bestimmten Situationen nicht weiterkommt. Grundsätzlich trägt vor allem der kontinuierliche persönliche Kontakt mit den jungen Menschen und ihren Familien zum Erfolg bei. Auch wenn es auf den ersten Blick keine neuen Entwicklungen gibt, hilft diese Verlässlichkeit, Vertrauen aufzubauen und zu halten, was ein entscheidender Faktor in instabilen Lebenssituationen ist.

    Auftragsklärung

    Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Auftragsklärung: Junge Menschen, ihre Familien und – wenn nötig – auch Lehrkräfte sollten aktiv in den Beratungsprozess einbezogen werden. Es geht darum, ihre Anliegen ernst zu nehmen, Raum für ihre Bedürfnisse und Anliegen zu schaffen, Sorgen ernst zu nehmen und gemeinsam nach passenden Lösungen zu suchen – ohne die eigene Fachmeinung aufzudrängen. Die Herausforderung liegt darin, eine Balance zu finden zwischen professioneller Beratung und der Anerkennung der Erfahrungen und Ideen der Eltern oder Sorgeberechtigten. Werden Familien gestärkt, wirkt sich das immer auch positiv auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aus.

    Darum ist eine erfolgreiche Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen nur möglich, wenn fachliche Kompetenz und methodische Flexibilität mit Einfühlungsvermögen und einer klaren, wertschätzenden Haltung verbunden werden.

    Gelingende Beziehungsgestaltung: Notwendige Rahmenbedingungen

    Im Bereich der Sozialen Arbeit, vor allem in der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit, gibt es bundesweit Angebote zum Umgang mit schulabsenten jungen Menschen, die unterschiedliche Fördermodalitäten und rechtliche Verankerungen haben (kommunale Projekte, Landesprogramme zur Schulsozialarbeit, Bundesgesetzgebung §13, §13a SBG VIII, ESF-Förderungen). Die Erkenntnisse aus dem fachlichen Austausch im Rahmen des Workshops zeigen, dass für eine wirksame und nachhaltige Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen bestimmte grundsätzliche, strukturelle Rahmenbedingungen unerlässlich sind.

    Beziehungsqualität durch Fallzahlbegrenzung sichern

    In der Praxis zeigt sich aktuell ein deutlich höherer Bedarf, als personell geleistet werden kann – die Fallzahlen übersteigen die Kapazitäten, wodurch Wartelisten entstehen. Als eine zentrale Voraussetzung für eine wirksame und nachhaltige Beziehungsarbeit mit schulabsenten jungen Menschen ist eine bewusst begrenzte Fallzahl – sei es in der Arbeit als Casemanager*innen oder in der Schulsozialarbeit. Nur wenn Fachkräfte ausreichend Zeit haben, können tragfähige Beziehungen zu den betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien aufgebaut werden. Gleichzeitig schafft dies Raum für intensive Netzwerkarbeit, die in Form von Helferkonferenzen oder regelmäßigen Abstimmungen mit dem Hilfesystem einen wichtigen Teil der Unterstützung darstellt. Dies gilt sowohl für Angebote, die im schulischen als auch im außerschulischen Feld verortet sind.

    Ausreichende Gestaltungsspielräume sicherstellen

    Ebenso wichtig sind ausreichende Gestaltungsspielräume für Fachkräfte, um flexibel und passgenau auf die Bedürfnisse der jungen Menschen eingehen zu können. Besonders eine räumliche und zeitliche Flexibilität sowie Ergebnisoffenheit ermöglicht es den Fachkräften, aufsuchend tätig zu sein und individuelle Begleitung zu leisten. So kann überhaupt erst die Grundlage für eine tragfähige Beziehungsarbeit geschaffen werden – vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen, etwa im Autismus-Spektrum, die ihr gewohntes Umfeld nur ungern verlassen. Termine können flexibel gestaltet und an den Lebensrhythmus der jungen Menschen angepasst werden, etwa an ihre Hobbys oder bevorzugten Aufenthaltsorte. Diese Flexibilität setzt zudem eine Leitung voraus, die nicht nur die passenden strukturellen Rahmenbedingungen schafft, sondern – ebenso wie das Fachpersonal selbst – auch Innovationsbereitschaft zeigt. Offenheit für neue Ideen und Methoden ist eine wichtige Grundlage, um auf komplexe Problemlagen individuell reagieren zu können.

    Einführung eines digitalen Klassenbuchs

    Ein Beispiel für eine solche innovative Maßnahme ist die Einführung eines digitalen Klassenbuchs. Es ermöglicht eine bessere Übersicht über An- und Abwesenheiten und fördert gleichzeitig die Zusammenarbeit verschiedener Professionen am Lern- und Lebensort Schule – etwa von Lehrkräften, Schulsozialarbeit und weiteren pädagogischen Fachkräften. Durch den gemeinsamen Zugriff kann das schulische System schneller und gezielter auf auffällige Entwicklungen reagieren, was im Kontext von Schulabsentismus einen großen Mehrwert darstellt.

    Tandemarbeit für die Begleitung schulabsenter junger Menschen und ihrer Angehöriger

    Diese Flexibilität eröffnet die Chance, den jungen Menschen und ihren Familien über längere Zeit hinweg als verlässliche Begleitung zur Seite zu stehen, die sie gewissermaßen wie ein roter Faden an verschiedenen Stationen ihres Lebens leitet. Besonders die Zusammenarbeit mit den Eltern oder Familien spielt dabei eine zentrale Rolle: Sie ermöglicht es, den Blick auf das gesamte Familiensystem zu richten und tragfähige, nachhaltige Lösungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang wurde im Workshop das Modell der Tandemarbeit in der Arbeit mit schulabwesenden jungen Menschen als besonders unterstützend herausgestellt, vor allem im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen den jungen Menschen und ihren Eltern oder Sorgeberechtigten. Auf diese Weise entsteht die Möglichkeit, sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Sorgeberechtigten individuell zu begleiten und sie in ihren jeweiligen Bedürfnissen ernst zu nehmen. Dabei wird nicht nur eine verlässliche Beziehung aufgebaut, sondern auch eine klare Rollenverteilung etabliert.

    Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit

    Nach Einschätzung der Praxis liegt ein zentraler struktureller Hebel zur Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit in einer gezielten Vernetzung, etwa mit dem staatlichen Schulamt, dem Jugendamt, der Schulsozialarbeit sowie stadtteilbezogenen Begegnungszentren. Dies betrifft eine enge Verzahnung über unterschiedliche Ebenen hinweg. Solche Kooperationen ermöglichen nicht nur eine ganzheitliche Sicht auf die Lebenslage der betroffenen jungen Menschen, sondern schaffen auch konkrete Anknüpfungspunkte für unterstützende Angebote im Alltag. Insbesondere der Zugang zu niedrigschwelligen Freizeit- und Bildungsangeboten am Nachmittag bietet den Jugendlichen zusätzliche Stabilität und eröffnet neue soziale Erfahrungsräume.

    Langfristige Maßnahmen als Grundlage für tragfähige Beziehungen

    Um tragfähige Beziehungen zwischen Fachkräften und schulabsenten jungen Menschen sowie ihren Familien aufzubauen, sind langfristig finanzierte Projekte und Maßnahmen nötig. Durch sie entsteht ein Raum, in dem Entwicklung in individuellem Tempo stattfinden darf. Außerdem wird so ein eine flexible Termin- und Kontaktgestaltung ermöglicht, die sich am tatsächlichen Bedarf der Familien orientiert. In der Folge können Angebote für die Beziehungsgestaltung passgenau und nachhaltig gestaltet werden, Rückschritte oder Verzögerungen können als Teil des Prozesses verstanden und gemeinsam reflektiert werden.

    Supervision und Fallbesprechungen strukturell verankern

    Wichtige strukturelle Elemente zur Qualitätssicherung sind darüber hinaus Supervision und regelmäßige Fallbesprechungen. Werden diese fest im Teamalltag verankert, können sie dem Fachpersonal einen geschützten Raum zur Reflexion, kollegialen Beratung und Bearbeitung belastender Situationen bieten. Der Bedarf kann flexibel angemeldet werden, sodass je nach Situation intern im Team oder mit externer Unterstützung gearbeitet wird.

    Insgesamt zeigt sich: Nur unter geeigneten strukturellen Bedingungen kann die komplexe Arbeit mit schulvermeidenden jungen Menschen wirksam gestaltet werden – mit Zeit, Flexibilität, vernetztem Arbeiten und der Offenheit, neue Wege zu gehen.

    Bildungspolitik gefordert: Maßnahmen bundesweit etablieren

    Der fachliche Austausch über die Gestaltung tragfähiger Beziehungen zu schulabsenten jungen Menschen und ihren Eltern oder Sorgeberechtigten macht deutlich, wie vielschichtig dieses Handlungsfeld ist. Besonders zeigt sich, wie eng die Haltung und die fachlichen Kompetenzen sozialpädagogischer Fachkräfte, methodische Ansätze und strukturelle Rahmenbedingungen im Kontext von Schulabsentismus miteinander verknüpft sind.

    Weniger Fehlzeiten durch gute Beziehungsarbeit in der Schule. Bild: Xavier Lorenzo | Adobe Stock

    Schließlich hat der Workshop aufgezeigt, wie viel Erfahrung und gute Ansätze es bereits gibt, um diesem Phänomen sozialpädagogisch zu begegnen.  Ein zentrales Problem besteht jedoch darin, dass entsprechende Angebote weder flächendeckend noch nachhaltig verankert oder allgemein bekannt sind. Außerdem sind die Rollen und Zuständigkeiten von Jugendsozial- und Schulsozialarbeit bislang nicht ausreichend geklärt oder verbindlich geregelt. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen der Vernetzung von Akteur*innen aus Projekten und Maßnahmen der Bedarf nach bundesweiten Arbeitsgruppen formuliert. Ziel müsste es sein, den länderübergreifenden fachlichen Austausch zu fördern, Best-Practice-Ansätze systematisch zugänglich zu machen und Strukturen für nachhaltige Kooperation und gegenseitige Unterstützung zu etablieren. Hier sind politische Impulse gefragt, um solche Netzwerke gezielt zu initiieren und dauerhaft zu fördern.

    "Wenn Beziehungsarbeit in der Schule gelingt, wird Schulabsentismus seltener zum Problem."
    Stimme aus der Praxis

     

    Beziehungsarbeit auf Augenhöhe, die die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen in den Mittelpunkt stellt, muss schließlich als zentrales Element präventiver Strategien dauerhaft in der Schulkultur verankert werden. Stimmen aus der Praxis machen deutlich: "Wenn Beziehungsarbeit in der Schule gelingt, wird Schulabsentismus seltener zum Problem." Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag an Bildungspolitik und Schulträger, strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine solche Beziehungsgestaltung ermöglichen – insbesondere durch ausreichende personelle Ressourcen, Qualifizierung und die Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit.

    Fußnoten und Literatur

    • 1Feldhaus et al. 2025 Feldhaus, Michael; Rau, Meike (2025): Schulabsentismus aus einer familiensoziologischen Perspektive: Ein Überblick über empirische Befunde, theoretische Zugänge und offene Fragen. In: Speck, Karsten; Ricking, Heinrich: Interdisziplinäre Kooperation und Schulabsentismus. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 59-79.
    • 2vgl. Deutsches Schulbarometer 2025 Das Deutsche Schulbarometer: https://deutsches-schulportal.de/unterricht/lehrer-umfrage-deutsches-schulbarometer-spezial-corona-krise-september-2021, letzter Zugriff 19.5.2025.
    • 3Eckhardt, Ried und Sommer 2023 Eckhardt, Rebecca; Ried, Roman; Sommer, Melanie: Jugendhilfe und Schule. Distanz verringern. In: dreizehn (30) 2023, S. 37–42.
    • 4vgl. Ricking 2023 Ricking, Heinrich: Schulabsentismus pädagogisch verstehen. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH, 2023.
    • 5Sälzer 2023 Sälzer, Christine: Multiprofessionelle Teams im Umgang mit Schulabsentismus. Der Mehrwert unterschiedlicher Perspektiven und Anknüpfungspunkte. In: dreizehn (30) 2023, S. 4–7.
    • 6Sälzer 2023 Sälzer, Christine: Multiprofessionelle Teams im Umgang mit Schulabsentismus. Der Mehrwert unterschiedlicher Perspektiven und Anknüpfungspunkte. In: dreizehn (30) 2023, S. 4–7.
    • 7vgl. u.a. Feldhaus et al. 2025; Ricking 2023 Feldhaus, Michael; Rau, Meike (2025): Schulabsentismus aus einer familiensoziologischen Perspektive: Ein Überblick über empirische Befunde, theoretische Zugänge und offene Fragen. In: Speck, Karsten; Ricking, Heinrich: Interdisziplinäre Kooperation und Schulabsentismus. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 59-79.
      Ricking, Heinrich: Schulabsentismus pädagogisch verstehen. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH, 2023.
    • 8vgl. Parrisius 2025 Parrisius, Anna (2025): Quote der Schulabgänger ohne Abschluss ist bundesweit gestiegen. In: Table Briefings (Hrsg.): Online verfügbar unter https://table.media/bildung/ news/quote-der-schulabgaenger-ohne-abschluss-ist-bundesweit-gestiegen.
    • 9vgl. Feldhaus und Rau 2025: 59f Feldhaus, Michael; Rau, Meike (2025): Schulabsentismus aus einer familiensoziologischen Perspektive: Ein Überblick über empirische Befunde, theoretische Zugänge und offene Fragen. In: Speck, Karsten; Ricking, Heinrich: Interdisziplinäre Kooperation und Schulabsentismus. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 59-79.
    • 10vgl. Sälzer 2023 Sälzer, Christine: Multiprofessionelle Teams im Umgang mit Schulabsentismus. Der Mehrwert unterschiedlicher Perspektiven und Anknüpfungspunkte. In: dreizehn (30) 2023, S. 4–7.

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