04.09.2020

Bildungsteilhabe für junge Geflüchtete

Benachteiligungen ausgleichen, Partizipation ermöglichen

von Maren Gag, Simon Goebel und Christiane Götze

Junge Geflüchtete haben im Übergang von der Schule in den Beruf mit erheblichen Risiken und Herausforderungen zu kämpfen. Maren Gag, Simon Goebel und Christiane Götze beschreiben in ihrem Gastbeitrag für überaus die Faktoren der Unsicherheit zwischen aufenthaltsrechtlichen Barrieren, biografischen Brüchen und entwicklungspsychologischen Problemen. Sie zeigen aber auch Lösungsansätze, die im Bundesprogramm "Integration von Asylbewerberinnen, Asylbewebern und Flüchtlingen" (IvAF) entwickelt und erprobt wurden. Ihr Beitrag ist zugleich ein Appell für den Aufbau regional abgestimmter Begleitungs- und Beratungsstrukturen zur Verbesserung der Teilhabe Geflüchteter.

Klick zum VergrößernMentee und Mentorin, die einen jungen Geflüchteten aus dem Netzwerk FLUCHTort Hamburg auf dem Weg in die Ausbildung begleitet

Ein junger Mann aus Pakistan – wir nennen ihn Ibrahim – lebt seit vier Jahren in Deutschland. Trotz schlafloser Nächte und fehlender Lernumgebung durch Unterbringung in Mehrbettzimmern in einer Gemeinschaftsunterkunft hat er einen Schulabschluss erreicht. Er wäre also bereit für die Ausbildung. Doch sein abgelehnter Asylantrag bereitet ihm Sorgen. Die Ausländerbehörde drängt auf seine "freiwillige" Ausreise. Er selbst hat Angst, in das Land zurückzukehren, aus dem er geflohen ist und will unbedingt in Deutschland bleiben. Er strebt eine Ausbildung an. Doch weil er bereits seit zwei Jahren nur geduldet wird und bislang keinen Pass abgegeben hat, will die Ausländerbehörde ihm keine Beschäftigungserlaubnis für die Ausbildung erteilen. Ibrahim ist frustriert. Er weiß nicht, was er machen soll. Wenn er es schafft, einen Pass zu beschaffen, könnte er abgeschoben werden.

Dieser Fall ist nicht ungewöhnlich. Er zeigt die teilweise widersprüchliche Verquickung von Migrationspolitik und Arbeitsmarktpolitik, von migrationsrechtlichen Rahmenbedingungen und pädagogischen Interessen, von komplexen Fallkonstellationen und individuellen Sorgen. Der Übergang von der Schule in den Beruf ist für Bildungsbenachteiligte mit erheblichen Risiken verbunden. Besonders junge Geflüchtete unterliegen aufgrund ihrer spezifischen Lebenslagen erheblichen Restriktionen und Diskriminierungen. Von ihnen wird erwartet, dass sie ohne deutsche Sprachkenntnisse den Einstieg in das deutsche Bildungssystem schaffen, um in kurzer Zeit einen Schulabschluss zu erwerben, der sie zur Ausbildung befähigt. Sogar das Bleiberecht wird von einer erfolgreichen Ausbildung abhängig gemacht.

Faktoren der Unsicherheit

Die Herausforderungen für junge Geflüchtete beim Zugang zum deutschen Bildungssystem und beim Übergang in Ausbildung sind äußert komplex und stellen sich auf mehreren Ebenen dar:

Massive Unsicherheiten bedingen sich durch aufenthaltsrechtliche Faktoren: Junge Geflüchtete, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist oder die nur im Besitz einer Duldung sind, können nicht in die Zukunft planen. Je nach Aufenthaltspapier ist ihnen der Zugang zu Förderinstrumenten erschwert oder sogar versperrt. Mit dem 2019 verabschiedeten "Migrationspaket" wurden zwar die sozialrechtlichen Regelungen zum Zugang zur Ausbildungsförderung sowie zur Sprachförderung teilweise verbessert, – resümiert die Juristin Dr. Barbara Weiser –, jedoch wurden gleichzeitig die aufenthaltsrechtlichen Vorgaben vielfach restriktiver gestaltet und die Arbeitsverbote für Asylsuchende und Geduldete erheblich ausgeweitet.

Je nach Aufenthaltsstatus ist jungen Geflüchteten der Zugang zu Förderinstrumenten erschwert oder sogar versperrt.

 

Die Biografien von jungen Geflüchteten sind häufig von mehreren Brüchen gekennzeichnet. Sie haben mit dem Verlust sozialer Netzwerke sowie mit den Folgen von Schulabbrüchen in den Herkunftsländern zu kämpfen. Nach ihrer Ankunft in Deutschland kommt es nicht selten zu Desillusionierung, Ängsten vor einer Abschiebung und Überforderung, sich in einer zunächst unbekannten Umgebung und Sprache zurechtzufinden und den Alltag zu meistern.

Klick zum VergrößernTeilnehmende in einem Berufsorientierungskurs des Netzwerkes BLEIBdran

Ein wesentliches Moment sind dabei auch entwicklungspsychologische Faktoren. Geflüchtete erleben wichtige Entwicklungsphasen wie Kindheit und Jugend sehr heterogen. Häufig mussten sie schon sehr früh im eigenen Familienunternehmen mithelfen oder einer Lohnarbeit nachgehen. Auch eine Kindheit oder Jugend auf der Flucht wird in Begriffen wie "verlorene Kindheit" oder "fehlende Jugend" veranschaulicht. Denn gerade das Jugendalter ist eine entscheidende Phase für den Aufbau sozialer Netzwerke und für Rollenklärungen. Je stabiler Menschen diese Phase erleben, desto leichter fällt der Wechsel in eine nächste Entwicklungsstufe. Mit dem Ankommen in Deutschland erleben junge Geflüchtete jedoch häufig das Gegenteil – soziale Unsicherheit und Diskontinuität. Dabei haben sie ein hohes Maß an non-formaler und informell erworbener Kompetenzen ausgebildet, aus der sich nicht selten eine Widerstandskraft entwickelt, mit der sie trotz diskriminierender Bedingungen ihr Leben im Exil selbstbestimmt in die Hand nehmen.

Die Praxis in den verschiedenen Bundesländern zeigt darüber hinaus, dass pädagogische Konzepte, Unterricht sowie Curricula und Schulprogramme nicht ausreichend fluchtsensibel gestaltet sind. Es gibt nicht flächendeckend stabilisierende Begleitsysteme. Vorhandene Unterstützungsangebote sind vielerorts intransparent oder nicht ausreichend aufeinander abgestimmt. Das erschwert den systematischen Einstieg junger Geflüchteter in das hiesige Bildungssystem. Diese Barrieren behindern junge Geflüchtete, ihre Potenziale zu entfalten und für sich eine berufliche Perspektive und ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben aufzubauen.

Lösungsansätze aus dem Bundesprogramm IvAF

Die Aufgabe der IvAF-Netzwerke (siehe Infokasten) besteht in der Beratung und Vermittlung von Geflüchteten in die deutschen Bildungssysteme und den Arbeitsmarkt. Zudem wird auf einer strukturellen Ebene darauf hingearbeitet, grundlegende Barrieren abzubauen und dadurch die Teilhabechancen der Zielgruppe zu erhöhen. Durch ihre lokale und regionale Verortung und den Netzwerkcharakter gelingt es den IvAF-Netzwerken die länder- und kommunalspezifischen Regelungen in ihre Arbeit einzubeziehen.

Die Erfahrungen wurden aktuell in einem umfassenden Arbeitspapier gebündelt, das anhand zahlreicher Beispiele die Praxis einzelner Netzwerke aufzeigt, die das Regelsystem ergänzen. Beispielsweise konnte in Thüringen darauf hingewirkt werden, dass im Thüringer Schulgesetz die zehnjährige Vollzeitschulpflicht nunmehr nicht mit dem 16. Lebensjahr endet, sondern bis zum 18. Lebensjahr gesetzlich verankert ist. In Köln wurden in Kooperation mit Berufskollegs "Seiteneinsteigerklassen" angeboten, die geflüchtete Schülerinnen und Schüler sozialpädagogisch begleiteten und dadurch nicht nur den Schulerfolg maßgeblich verbesserten, sondern auch durch Trainings Selbstsicherheit und Vergewisserung förderten und zur Berufsorientierung beitrugen. In Bayern wurden 2017/2018 über 1.000 Lehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte an Berufsschulen zu den migrations- und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen geschult – Themen, mit denen das Schulpersonal plötzlich vielfach konfrontiert wurde und Lösungen suchte. In Hamburg wurden didaktische Werkstätten eingerichtet, um mit Pädagoginnen und Pädagogen deren eigene Vorstellungen über die heterogene Zielgruppe der Geflüchteten zu hinterfragen und darauf aufbauend geeignetes Lernmaterial und Lernformate zu entwickeln.

Den hier nur rudimentär dargestellten Praxisbeispielen in den IvAF-Netzwerken ist gemeinsam, dass sie der Zielgruppe Handlungsoptionen aufzeigen, zur Selbstermächtigung unterstützen und eine Begleitstruktur bereitstellen, die ihre Teilhabechancen erhöht. Neben dem Kontakt zu Geflüchteten selbst, zielt das heterogene Netzwerken auf eine Verbreitung der spezifischen Expertise von migrations- und sozialrechtlichem Wissen, verbunden mit sozialarbeiterischen und pädagogischen Ansätzen. Durch die engen Kontakte zu und Kooperationen mit Arbeitsverwaltungen, Betrieben, Schulen, Kommunen, Politik, Verbänden, Flüchtlingsräten, Ehrenamtsstrukturen etc. kann der Übergang von der Schule in den Beruf im konkreten Einzelfall ermöglicht und im Allgemeinen durch Lobbyarbeit zur Übernahme guter Praxis im Regelsystem beigetragen werden.

Es ist nicht förderlich, wenn Begleitstrukturen für junge Geflüchtete abrupt wegbrechen, weil die Projektlaufzeit endet.

 

Die Erfolge aus dem IvAF-Bundesprogramm können gleichwohl nicht verdecken, dass die Akteure im Handlungsfeld insgesamt – im Regelsystem und bei freien Trägern -  mit Herausforderungen zu kämpfen haben, die sich auch nachteilig auf die Zielgruppe auswirken können. Kurze Laufzeiten und eine teils unübersichtliche Projektlandschaft führen zu Konkurrenzen auf dem "Markt der Integrationsmaßnahmen", die nicht zu erhöhter Innovationsfähigkeit führen, sondern regelmäßig zum Verlust von Know-how. Es ist nicht förderlich, wenn Begleitstrukturen für junge Geflüchtete abrupt wegbrechen, weil die Projektlaufzeit endet. Die Regelsysteme können Kompetenzen lokaler Projekte wie Flexibilität, Aktualität und Passgenauigkeit von Maßnahmen nicht in dem für die Zielgruppe erforderlichen Maße gewährleisten, so dass Begleitstrukturen in Ergänzung immer eine Rolle spielen werden. Daher tut eine Anerkennung guter Projektarbeit Not, die sich in längeren Laufzeiten oder in verstetigten Projektstrukturen abbilden sollte. Und daher ist auch eine kommunale Steuerung unter Einbezug aller Akteure unerlässlich.

Regional abgestimmte Bildungsketten

Die sehr heterogenen Lebenslagen von Geflüchteten, die rechtlichen Bedingungen und regionalen Unterschiede sowie die bildungspolitischen Entscheidungen spiegeln die Komplexität der Übergangsphase von der Schule in den Beruf für diese Zielgruppe wider. Diese Aufgabe kann nicht allein von einem Akteur bewältigt werden. Es braucht Netzwerke, die regional abgestimmte Bildungsketten etablieren, um geflüchtete Menschen erfolgreich während der Ausbildung zu begleiten. Bildungsangebote müssen regional aufeinander aufbauen. Doch reichen die besten Bildungsketten nicht aus, wenn aufenthaltsrechtliche Fragen den Prozess erschweren und im schlimmsten Fall blockieren. Die Aufgabe der IvAF-Netzwerke ist es, Beratungsangebote vorzuhalten, die die aufenthaltsrechtlichen Hürden thematisieren und im besten Fall Lösungen bieten. Dabei ist eine hohe Flexibilität gefragt. Asyl-, aufenthalts- und sozialrechtliche Änderungen erfolgen häufig Schlag auf Schlag, so dass Wissen immer wieder neu generiert und verfügbar gemacht werden muss.

Klick zum VergrößernJunge Geflüchtete in der Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer aus dem Netzwerk FLUCHTort Hamburg

Die IvAF-Netzwerke haben in den letzten Jahren bewiesen, dass sie auf politische und rechtliche Dynamiken ad-hoc und kompetent reagieren können. Trotz allem werden Menschen wie Ibrahim häufig aus sämtlichen Teilhabesystemen gedrängt. Viele junge Geflüchtete werden zwischen den politischen Absichten einer repressiven Migrationssteuerung und einem bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Leistungsanspruch zerrieben. Für sie gelten Ausschlussregelungen, durch die ihnen Teilhabechancen vorenthalten werden. Im besten Fall sollen sie als Humanressourcen nutzbar gemacht werden, im schlechtesten Fall werden sie als Bedrohung angesehen. Projekte, die sich mit Arbeitsmarktzugang und Bildungsbeteiligung von Geflüchteten beschäftigen, sind also immer auch in politische Aushandlungen verstrickt. So gilt es klar Stellung zu beziehen für eine offene Gesellschaft, die ihre Teilsysteme inklusiv gestaltet, sowie Strukturen der Benachteiligung offenzulegen und zu kritisieren.

Diversität ist keine wissenschaftliche Spielerei, sondern ein gesellschaftliches Faktum.

 

Eine gute Ratgeberin für eine solche Einmischung ist die Wissenschaft. Migrationspädagogische, transnationale oder menschenrechtliche Ansätze werden nicht müde, die Heterogenität und Individualität von Menschen zum Ausgangspunkt des Verstehens von Flucht und Migration zu machen. Dadurch geraten häufig kaum wahrgenommene Differenzlinien wie "Behinderung" und "Geschlecht" in den Blick, die mit spezifischen, intersektionalen Benachteiligungsdimensionen zusammenhängen. Es ist augenfällig, dass die Bedarfe von jungen Geflüchteten mit körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen im Übergang Schule - Beruf kaum aufgegriffen werden. Das zeigt sich beispielsweise im weit verbreiteten Informationsdefizit zur Frage, welche Sozialleistungen dieser Gruppe gewährt werden können. Die geringere Ausbildungsbeteiligung von Mädchen bzw. jungen Frauen bedarf einer kritischen und differenzsensiblen Auseinandersetzung mit bisheriger Praxis – auch unter dem Aspekt, dass die Geschlechterdebatte nicht auf die Zweigeschlechtlichkeit zu verengen ist, sondern auch diejenigen beachtet werden müssen, die von der heterosexuellen Norm abweichen.

Diversität ist keine wissenschaftliche Spielerei, sondern ein gesellschaftliches Faktum. Die Anerkennung von Diversität bedeutet mit den Worten der Erziehungswissenschaftlerin Viola Georgi, dass es im Sinne inklusiver Ansätze "struktureller (rechtlicher) Rahmenbedingungen" bedarf, "die benachteiligende Ausgangslagen ausgleichen können und Partizipation ermöglichen". Weil diesem Ansatz bislang nicht ausreichend Genüge getan wird, ergeben sich für die Zukunft jede Menge Aufgaben – für die Politik, für Bildungs- und Arbeitsmarktakteure und für die IvAF-Netzwerke.

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