12.12.2016

Peer Counseling und Persönliche Zukunftsplanung

Beratung von Menschen mit Behinderungen bei der beruflichen Orientierung und beim Übergang in Ausbildung und Beruf

von Aristoula Papadopoulou und Christian Papadopoulos

So wenig Sonderwege wie möglich, so viele Nachteilsausgleiche wie nötig. Daran sollte sich ein Beratungskonzept, das sich an einer inklusiven Ausrichtung orientiert, messen lassen. Zwei Konzepte, die diese Voraussetzungen einschließen, sind das so genannte Peer Counseling und die Persönliche Zukunftsplanung, die als Methoden im Folgenden an einem konkreten Beispiel erläutert werden.

Peer Counseling

Die grundlegende Voraussetzung für das Peer Counseling ist, dass Menschen andere Menschen  beraten, mit denen sie vergleichbare Erfahrungen teilen. Dies fördert den direkten Austausch, da durch die ähnliche Lebenslage leichter ein Vertrauensverhältnis entstehen kann und nicht jede Erfahrung erklärt werden muss. Daneben haben die Beratenden eine Vorbildfunktion, die die Ratsuchenden darin bestärkt, eigene Ziele als erreichbar wahrzunehmen und sie weiterzuverfolgen.  Wir beraten - mit unserem eigenen Erfahrungshintergrund einer Behinderung -  behinderte Jugendliche bei ihrer Berufsorientierung und der Entscheidung für einen bestimmten Beruf. Viele Elemente bzw. Kommunikationsstrategien aus unseren Beratungen lassen sich auch anwenden,  wenn man nicht mit einer Behinderung lebt.

Für die Methode des Peer Counselings ist Zeit erforderlich. Man muss den Ratsuchenden mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten offen gegenübertreten. Durch die Offenheit gegenüber den individuellen Orientierungen, dem persönlichen Umfeld und den Möglichkeiten der jungen Erwachsenen entwickeln sie Vertrauen zu den Beratenden und fühlen sich ernst genommen. Das erfordert von den Beratenden eine Haltung, die kritisch das eigene Vorwissen über die jeweiligen Beeinträchtigungen und die damit einhergehenden Vorurteile reflektiert, damit  die jungen Erwachsenen nicht auf ihre Defizite reduziert werden. Das Ziel ist, sich  auf ihre Interessen und Fähigkeiten zu konzentrieren.

Grundsätzlich liegt die Verantwortung für die Umsetzung bei den Ratsuchenden, da es um ihr Leben und ihre Zukunft geht.

 

Indem die Beraterinnen oder Berater den Jugendlichen mit Aufmerksamkeit begegnen und sich deren Erfahrungen und Sichtweisen durch Fragen annähern, reduzieren sie das Risiko, dem Gespräch zu sehr den eigenen Stempel aufzudrücken. Die Fragen sollen möglichst offen gehalten werden und nicht direkte oder versteckte Antwortvorgaben enthalten. Fragen nach dem Was, dem Wie und dem Warum sollen im Vordergrund stehen. Das ermöglicht den Jugendlichen, ihre Position mit eigenen Worten zu beschreiben und darüber nachzudenken, was ihre Schwierigkeiten und was ihre Ziele sind. Da die Jugendlichen oftmals nicht gelernt haben, ihre Wünsche, Bedürfnisse, Fähigkeiten, aber auch ihre Schwierigkeiten zu benennen, müssen sie sich ermutigt und bestärkt fühlen, über sich selbst zu berichten. Davon ausgehend werden gemeinsam die Fragestellungen und Herausforderungen definiert, die für die Berufsorientierung und den Übergang in die Ausbildung zu berücksichtigen sind. Die Beratenden können durch ihr Wissen und ihre Erfahrungen Hilfestellungen geben, aber auch Raum für Wünsche und Träume anbieten, um kreativ über das scheinbar Unveränderliche hinaus zu denken. Durch den anschließenden Rückbezug auf die derzeitige Situation werden gemeinsam wichtige Elemente herausgearbeitet, die eine Entscheidung für eine bestimmte berufliche Richtung ermöglichen. Anschließend geht es darum, die nächsten Schritte zu planen, um die Ziele zu erreichen. Die Schritte werden miteinander abgesprochen und es wird vereinbart, bis wann die Aufgaben erledigt sein sollen.

Beratende müssen lernen, dass junge, behinderte Menschen auch scheitern dürfen; dass es nicht ihre Aufgabe ist, die behinderten Jugendlichen vor Fehlern zu bewahren.

 

Grundsätzlich liegt die Verantwortung für die Umsetzung bei den Ratsuchenden, da es um ihr Leben und ihre Zukunft geht. Jugendliche und junge Erwachsene müssen aber häufig die Verantwortung für sich selbst erst einmal annehmen und den Umgang damit erlernen. Die Beratenden können anbieten, bei Rückfragen, Unsicherheiten oder bei der Suche nach Ideen zur Verfügung zu stehen. Sie können dabei unterstützen, Gespräche mit wichtigen Stellen vorzubereiten und die Jugendlichen dorthin begleiten.

Persönliche Zukunftsplanung

Auch die persönliche Zukunftsplanung ist eine personenzentrierte Methode, die von der planenden Person mit Behinderung bestimmt wird. Häufig werden Eltern, Freundinnen und Freunde, Lehrerinnen und Lehrer sowie  andere Bezugspersonen, die das Vertrauen der jungen Menschen genießen, in den Beratungs- und Planungsprozess eingebunden, um die Ratsuchenden bei ihren Entscheidungen zu unterstützen (vgl. Doose 2004).

Ausgangspunkt der Beratung und Planung ist die individuelle Person, ihre aktuelle Lebenssituation und ihr unmittelbares und weiteres Umfeld. Es geht  darum herauszufinden, was die Ratsuchenden interessiert,  woraus sie ihre Motivationen ziehen, und vor allem wo ihre Fähigkeiten und Stärken, aber auch Schwächen liegen. Um das herauszufinden, ist es meist hilfreich,  die Perspektive anderer Menschen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld einzubeziehen. Dadurch können leichter  Möglichkeiten für Menschen zum Beispiel im Arbeits- und Freizeitbereich  gefunden werden.  Und immer geht es  auch darum, die Lebensqualität zu verbessern und Chancen zu eröffnen. So können den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Beispiel Praktika angeboten werden, in denen sie sich erproben und neue Verhaltensweisen kennenlernen können.

Die persönliche Zukunftsplanung zielt darauf ab, die Jugendlichen als Person zu stärken und mit ihnen gemeinsam ihre beruflichen Perspektiven zu erkunden. Dabei sind Fehler und Rückschläge erlaubt und auch nicht zu vermeiden. Wenn etwas nicht gelingt, kann daraus gelernt werden und es können neue Wege eingeschlagen werden. Das gilt auch dann, wenn die Jugendlichen intensive Unterstützung benötigen. Auch wenn bestimmte Anforderungen nicht ohne Hilfe bewältigt werden können, heißt das nicht, dass die jungen Erwachsenen nicht mehr selbst bestimmen könnten, was sie interessiert und was sie gerne erreichen möchten. Es geht dann darum, die notwendigen Hilfen und Nachteilsausgleiche zu organisieren.

„Ein entscheidendes Moment der Persönlichen Zukunftsplanung ist, dass die Person mit Behinderung ihren Plan und die Aktivitäten mit der notwendigen Unterstützung selbst steuert. Dazu braucht sie gute Informationen in verständlicher Sprache, echte Wahlmöglichkeiten und vor allem eine wertschätzende Atmosphäre, in der ihr die Kompetenz auch zugestanden wird über ihr Leben und die für sie passende Unterstützung auch selbst zu entscheiden“ (Doose 2004).

 

Ein Fallbeispiel

In unserer tägliche Praxis bieten wir, die Autoren, Beratungsdienstleistungen auch für Arbeitnehmer/innen mit Behinderung an. Vor circa drei Jahren meldete sich ein 23-jähriger Mann bei uns, der von einem Kollegen an uns verwiesen worden war. Seine Eltern stammen aus Marokko. Er selbst ist in Deutschland geboren und hier zur Schule gegangen, die er mit einem Förderschulabschluss im Schwerpunkt Lernen absolviert hat. Bis vor Kurzem lebte er noch ausschließlich bei den Eltern, mit seinem Vater als gesetzlichem Betreuer. Nach ersten Erfahrungen in der Werkstatt für behinderte Menschen, bei denen er sich völlig unterfordert fühlte, hatte er sich entschieden, dass die Beschäftigung in einer Werkstatt (WfbM) für ihn keine Zukunftsperspektive sein soll.

Bild: Jutta Kühl / pixelio

Bei unserem ersten Kontakt überzeugte er uns mit seiner Aufgeschlossenheit, seiner kommunikativen Kompetenz und seiner Klarheit darüber, auf keinen Fall in einer Werkstatt arbeiten zu wollen. Im Laufe der Zusammenarbeit wurden aber auch seine Schwächen deutlich: Mit seiner Pünktlichkeit nahm er es nicht so genau. Regelmäßig rief er kurz vor dem Gespräch an, um sich dafür zu entschuldigen, es nicht rechtzeitig zu schaffen. Er überschätzte seine eigenen Fähigkeiten bzw. stellte sie positiver dar, als sie waren. Auf Nachfragen räumte er jedoch ein, dass er an der einen oder anderen Stelle noch Nachholbedarf habe. Weitere Schwächen hatte er beim Rechnen und im Schreiben. Körperlich hatte er leichte Schwierigkeiten beim Laufen und in der Feinmotorik. Diese waren ihm aber durchaus bewusst.

Bei unserem ersten Beratungsgespräch kam heraus, dass er am liebsten in einer Organisation im sozialen Bereich arbeiten würde, die vielleicht auch international tätig sei. In diesem Bereich hatte er zuvor schon ehrenamtlich gearbeitet und bei der Durchführung einzelner Veranstaltungen geholfen. Er habe schon überlegt, ob vielleicht auch ein FSJ für ihn in Frage käme. Im Laufe der nächsten Treffen stellte sich heraus, dass er über das FSJ nur als Notlösung nachdachte, um nicht zu Hause zu versauern. Eigentlich ging es ihm darum, eigenes Geld in einem interessanten Job zu verdienen und unabhängiger von seiner Familie zu sein; Ziele – darüber war er sich bewusst – die mit einem FSJ nicht unmittelbar zu erreichen wären.

Auf unsere Nachfrage hin konnte er sich eine Ausbildung zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, auch wenn er dies für die Zukunft nicht ausschließen wollte. Um ihm dennoch eine Perspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, kamen wir gemeinsam auf die Idee eine unterstützte Beschäftigung anzustreben. Mit dieser Zielsetzung begleiteten wir ihn zu einem Termin, den er selbstständig vereinbart hatte, mit seinem zuständigen Reha-Berater bei der Agentur für Arbeit, der trotz einiger Bedenken dem Vorhaben zustimmte. In der Übergangsphase vor dem Start in die unterstützte Beschäftigung haben wir auch noch einmal intensiver zusammengearbeitet und ihm deutlich gemacht, dass er an seiner Pünktlichkeit arbeiten müsse. Auf seine Bitte hin begleiteten wir ihn auch zu einem Vorgespräch des Anbieters der Unterstützten Beschäftigung. Auch hier wurden Pünktlichkeit und Eigenverantwortlichkeit noch einmal besonders betont.

Nach etwas mehr als zwei Monaten nach dem Beginn meldet er sich etwas verzweifelt. Der Anbieter überlege, die Maßnahme bei ihm abzubrechen. Erstens würde er es nur selten schaffen, pünktlich zu sein und zweitens wäre es schwierig, ihn in den sozialen Bereich zu vermitteln. Bei einem klärenden Gespräch zusammen mit uns stellte sich heraus, dass die Mitarbeiter ihn regelmäßig ermahnt hatten, pünktlich zu sein und die eigenständige Heimarbeit auch wirklich umzusetzen, ohne dass sich über die Zeit eine Veränderung eingestellt hätte. Die Entscheidung stand also bereits fest, sodass wir seiner Erwartung, ein gutes Wort für ihn einzulegen, weder entsprechen konnten noch wollten. Er zeigte die Tendenz, sich auf unserer Unterstützung auszuruhen.

So wenig Sonderwege wie möglich, so viele Nachteilsausgleiche wie nötig. Daran sollte sich ein Beratungskonzept, das sich an einer inklusiven Ausrichtung orientiert, messen lassen.

 

Bei dem nachfolgenden Gespräch mit dem Reha-Berater präsentierte er einen neuen eigenen Vorschlag, um im Rahmen eines Praktikums an seiner Pünktlichkeit und Eigenverantwortung zu arbeiten. Trotz bestehender Zweifel des Reha-Beraters und auch unsererseits kam das Praktikum zustande und wurde auch ohne weitere Unterstützung von uns zu Ende gebracht. Im Anschluss engagierte er sich weiter ehrenamtlich bei seiner Praktikumsstelle, einem Jugendzentrum.
Nach etwa einem dreiviertel Jahr meldete er sich erneut bei uns mit der Neuigkeit, dass er seinen Hauptschulabschluss an einem speziellen Berufskolleg machen werde. Der Platz sei sicher und Anträge auf BAFöG und Eingliederungshilfe bereits gestellt. Er hat tatsächlich zum Schuljahr 2016/17 sein Vorhaben in die Tat umgesetzt.

Zusammenfassung

Peer Counseling und Persönliche Zukunftsplanung stellen  die Beratenden vor eine Herausforderung. Sie müssen lernen zu akzeptieren, dass auch junge und behinderte Menschen scheitern dürfen; dass es nicht ihre Aufgabe ist, die behinderten Jugendlichen vor Fehlern zu bewahren. Gleichzeitig begleiten sie den Prozess und sind ansprechbar, wenn es mal nicht weitergeht. Aber auch die jungen Menschen werden herausgefordert. Sie müssen Verantwortung für sich selbst übernehmen. Auch die eigenen Vorstellungen und Fähigkeiten einzuschätzen, kann Ihnen zuweilen nicht ganz leichtfallen. Dabei gilt für uns der Grundsatz: So wenig Sonderwege wie möglich, so viele Nachteilsausgleiche wie nötig. Daran sollte sich ein Beratungskonzept, das sich an einer inklusiven Ausrichtung orientiert, messen lassen. Wir konzentrieren uns – wie auch in diesem Fall – in der Beratung immer auf die Interessen und Fähigkeiten der behinderten jungen Menschen und lassen dabei unsere eigenen Erfahrungen als Beratende mit Behinderungen einfließen. Als Zielsetzung verfolgen wir eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Mit dieser Herangehensweise lösen wir uns vom Fürsorgeprinzip der klassischen Hilfeplanung der Behindertenhilfe, stärken die Selbstbestimmung und erweitern die Entscheidungsmöglichkeiten der jungen Menschen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, arbeiten wir mit den Methoden des Peer Counselings und der persönlichen Zukunftsplanung.

Weitere Informationen

Persönliche Zukunftsplanung

  • DOOSE, Stefan (2020): "I want my dream!"
    Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer personenzentrierten Planung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Buch mit umfassendem Materialienteil. 10. aktualisierte Auflage Neu-Ulm: AG SPAK Bücher.
  • www.persoenliche-zukunftsplanung.eu
    Auf diesen Seiten des Netzwerks "Persönliche Zukunftsplanung" finden Interessierte weitere Materialien und Ansprechpartner zu der Methode.

Peer Counseling

  • van Kan, Peter (1996): Peer Counseling - die Idee und das Werkzeug dazu.
    Ein Arbeitshandbuch. Kassel: ISL e. V. In der Vorbemerkung schreibt Peer van Kan:"Ich habe versucht, dieses Manuskript lebhaft und gut lesbar zu gestalten und habe gänzlich auf Anmerkungen im Text verzichtet. Dadurch sieht der Text zweifellos weniger wissenschaftlich aus, es macht ihn aber hoffentlich nicht weniger nützlich."
  • www.peer-counseling.org/
    Die Arbeit der Peer CounselorInnen ISL orientiert sich am Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention: „durch Peer Support Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren“.