28.05.2014

Sinti und Roma in Deutschland - Klischees überwinden, Ansätze finden

Hintergrundinformationen und Praxisbericht aus Hamburg

von Petra Lippegaus-Grünau

Das Bild, das mit Roma und Sinti verbunden wird, ist meist ein Kaleidoskop von Klischees und Vorurteilen. Das Hamburger Projekt "Heterogenität in Berufsorientierung und Ausbildung" wendet sich gegen alle Formen von Zuschreibungen. Es unterstützt junge Sinti und Roma in der Berufsorientierung. Der Bericht liefert Fakten zu Roma und Sinti in Deutschland und stellt das Projekt vor.

Roma und Sinti stellen mit ca. 10 bis 12 Millionen Menschen die größte ethnische Minderheit in Europa. Sie sind wie kaum eine andere auch heute noch von Ablehnung und Ausgrenzung betroffen. 20 bis 30 Prozent der Deutschen wollen keine Nachbarn aus der Türkei oder Afrika, bei Roma und Sinti beträgt die Quote der Ablehnenden 60 Prozent. Gespeist wird das Bild von aktuellen Nachrichten über den Zuzug z. B. aus Rumänien und Bulgarien, über "Armutsflüchtlinge", deren Bildungsferne, Lebens- und Arbeitsgewohnheiten sowie kulturelle Barrieren eine Eingliederung zu erschweren scheinen.

Tatsächlich setzen sich die rund 120.000  Roma und Sinti in Deutschland aus ganz verschiedenen Gruppen zusammen. Roma und Sinti leben seit 600 Jahren in Deutschland, viele kamen in den 60er und 70er Jahren als "Gastarbeiter/innen" und sind längst deutsche Staatsbürger/innen -  rund 70.000 Roma und Sinti haben einen deutschen Pass.  Aufgrund der erlebten und/oder befürchteten Diskriminierung als "Zigeuner" z. B. bei der Suche nach Wohnung und Arbeit  geben sie ihre ethnische Herkunft vielfach nicht zu erkennen.

Diskriminierungserfahrungen

Deutschlands prominentestes Beispiel ist die Sängerin Marianne Rosenberg, eine Sintezza (Angehörige der Sinti), deren Vater das Konzentrationslager durchlitt, aber überlebte. Als Schlagersängerin verheimlichte Marianne Rosenberg ihre Herkunft, um ihre Karriere und den Wohlstand der zuvor armen Familie nicht zu gefährden. Heute setzt sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, gegen Antiziganismus und für Roma und Sinti in Deutschland ein. Sie betonen, dass sich Roma und Sinti nicht über einen Kamm scheren lassen. "Ihre Lebensverhältnisse unterscheiden sich ebenso wie die der Mehrheitsgesellschaft nicht nur regional, schichtspezifisch und familiär, sondern auch individuell voneinander." sagt Petra Rosenberg in einem Interview der Fernsehsendung Planet Wissen.

Eine zweite große Gruppe bilden rund 50.000 Roma und Sinti, die in Folge des Kosovo-Konflikts nach Deutschland flüchteten. Nach einem Rückführungsabkommen Deutschlands mit der Republik  Kosovo haben die meisten von ihnen keinen gesicherten Status, sie sind immer wieder nur geduldet und müssen ständig mit Abschiebung rechnen. Die Jugendlichen haben Kriegs- und Fluchterlebnisse mitgebracht und Traumata erlitten. Zwei Drittel der Kinder aber sind hier geboren. Sie wachsen zumeist unter äußerst ungünstigen Bedingungen auf: einige in Flüchtlingswohnheimen ohne Privatsphäre und Raum für kulturelle Bedürfnisse, andere in oft heruntergekommenen Ghettosiedlungen. Zum Teil dürfen Kinder die Schule besuchen, die Eltern sind oder waren aufgrund mangelnder Arbeitserlaubnis oft zum Nichtstun verdammt. Eine "Altfallregelung" gibt langjährig Geduldeten eine Möglichkeit, diesen Status zu überwinden, wenn sie ihren Lebensunterhalt zumindest zum Teil selbst absichern können. Dies gelingt aber nur einer Minderheit.

Ansatz des Göttinger Vereins

Einige Jugendliche setzen sich gegen diese Situation zur Wehr, wie die Reportage "Jeden Tag verlieren wir jemanden" anschaulich schildert. In Göttingen haben junge Roma und Sinti den Verein Roma Center e.V. gegründet. Im Gelände des alten Zollamts hilft man sich bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder bei Behördenbescheiden, managt bundesweite Roma-Treffen, entwickelt Projekte und  organisiert Proteste gegen Abschiebungen. Einige Jugendlichen haben sich hier ein Tonstudio eingerichtet.

Aktuell in der Diskussion sind die sogenannten "Armutsflüchtlinge" aus Rumänien oder Bulgarien. In ihren Heimatländern - so der Hintergrundbericht "Arme Roma, böse Zigeuner" - war der Arbeitsmarkt oft zwischen verschiedenen Ethnien fest aufgeteilt; Sinti und Roma lebten in der Vergangenheit oft  von Jobs, die keine hohe Qualifikation erforderten. Mit dem Abbau solcher Arbeitsstellen fällt auch ihre Existenzgrundlage weg. In manchen Ländern ist die Beschäftigungsrate von Sinti und Roma um die Hälfte zurückgegangen. Armut, Elend und Konkurrenz sind ein  guter Nährboden für Ausgrenzung und Rassismus. Auf Antiziganismus und Vorbehalte stoßen Sinti und Roma auch, wenn sie nach Deutschland kommen.

Eine Jahr 2011 zeigte die desolate Bildungslage vieler deutscher Roma und Sinti. Zwar gibt es einzelne, die das Abitur machen oder sogar studieren, aber insgesamt bleibt der Bildungsstand von Roma und Sinti in Deutschland weit hinter dem der deutschen Mehrheitsgesellschaft zurück: 13 Prozent der Befragten besuchten keine Schule, 10 Prozent eine Förderschule, nur knapp 19 Prozent hatten eine Ausbildung absolviert. Hier stoßen manchmal Welten aufeinander: Überzeugungen und Verhaltensmuster, die im alten Leben galten, passen hier nicht und umgekehrt. So lohnt sich - so Norbert Mappes-Niediek in seinem Buch "Arme Roma, böse Zigeuner" - Bildung für Menschen, deren Grundbedürfnisse gestillt sind und die in eine langfristige Perpektive investieren können. Wer von der Hand in den Mund lebt, für den steht der tägliche Bedarf im Vordergrund. Langfristige Entscheidungen setzen Schutz, Vertrauen und Planungssicherheit voraus.

Eine Chance für "chancenlose" Jugendliche

Einen Weg, der auf Situationsbeschreibungen und Erklärungsmuster verzichtet, bevorzugt Arzu Degirmenci Pehlivan von der Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten e.V. (ASM). Die 31-jährige Politologin mit türkischen Wurzeln leitet das Projekt "Heterogenität in Berufsorientierung und Ausbildung", in dem Jugendliche in Ausbildung vermittelt werden, die nach bisheriger Einstellungspraxis keine Chance auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz hatten. Dabei stehen die Potenziale und Stärken der Jugendlichen im Vordergrund. Zu den Teilnehmenden gehören Jugendliche mit einer Zuwanderungsgeschichte, darunter auch Sinti und Roma. Das Projekt war Teil des BIBB-Modellversuchsförderschwerpunkts "Neue Wege in die duale Ausbildung - Heterogenität als Chance für die Fachkräftesicherung" und wurde Ende März abgeschlossen. Im Modellversuch hatte das Team der ASM Strategien entwickelt, um Klein- und Kleinstunternehmen als Ausbildungsbetriebe für Jugendliche mit heterogenen Merkmalen zu gewinnen.

Vertrauensketten

Mit intensiver Begleitung der Jugendlichen durch ASM und durch persönliche Gespräche mit Schülerinnen und Schülern, Ausbildern und Schulen wurden Vertrauensketten aufgebaut und  gefestigt. Dabei verfolgt ASM in der Vermittlung das Ziel, gemeinsam mit den Jugendlichen und Ausbildungsakteuren Übergänge zu gestalten. Dazu gehört auch, die Jugendlichen auf Ausbildungsplätze aufmerksam zu machen, die in erster Linie wenig attraktiv erscheinen, aber enorme Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten bieten. Während der Ausbildung wird der Kontakt zu den Jugendlichen in regelmäßigen Abständen aufrechterhalten, um sie bei Problemen und Fragen nicht allein zu lassen. Neben den Auszubildenden unterstützt und berät ASM auch die Betriebsinhaber in betrieblichen Fragen oder bei der Abwicklung notwendiger Formalitäten.

Relevant sind für das Projekt nicht die Probleme, sondern Stärken und Potenziale.

 

Der Zugang zur Roma und Sinti setzt solche Vertrauensketten voraus. Diese können nur mit den jeweiligen regionalen Akteuren aufgebaut werden. Die Freie Schule Hamburg hat durch ihre 30-jährige Arbeit Vertrauen aufgebaut. Das lässt sie als Kooperationspartner in die Arbeit von ASM einfließen. Das Team entschied sich gemeinsam mit dem BIBB, das Projekt bis Ende August zu verlängern, um passende Ansätze zu finden und gemeinsam mit der Freien Schule Hamburg gezielt fünf jugendliche Roma und Sinti in Praktikum oder Ausbildung zu bringen.

Ansatz der "Freien Schule Hamburg"

Die Freie Schule Hamburg, eine autonome Schule, legt einen Schwerpunkt auf Jugendliche, die als nicht "beschulbar" gelten, z. B. aufgrund eines unregelmäßigen Schulbesuchs. Zu ihnen gehören auch Sinti und Roma aus einer Siedlung im Hamburger Stadtteil Wilhelmburg. Viele Familien leben schon lange hier, andere sind später zugezogen. Arzu Pehlivan zögert, wenn sie aufgefordert wird, die Ausgangslagen für Bildungsprobleme der Sinti und Roma zu beschreiben. Viele Erklärungsmuster sind in ihren Augen kulturelle Zuschreibungen, die der Vielfalt der Personen, Familien und Hintergründe nicht gerecht werden. Nach ihren Erfahrungen können die Gründe für einen unregelmäßigen Schulbesuch sehr unterschiedlich sein. So gibt es in einigen Familien ein historisch begründetes Misstrauen gegen die deutsche Schule, in anderen Fällen haben Kinder und Jugendliche Diskriminierungen und Fremdheitserfahrungen persönlich erlebt, andere Familien legen sehr viel Wert auf Bildung. Sie weist darauf hin, dass viele Roma und Sinti sich gegen Generalisierungen wenden.

Im Modellversuch war deutlich geworden, dass viele junge Sinti und Roma Akteure brauchen, die aus ihrer Gruppe stammen. Diese Nachbarn schaffen Zugänge und dienen als Vorbilder für erfolgreiche Bildungskarrieren. Das Team setzt aber nicht auf "Sinti-und-Roma-typische" Strategien, sondern sucht in jedem Einzelfall Anknüpfungspunkte, die sich aus der jeweiligen Biografie ergeben. Relevant sind für das Projekt nicht die Probleme, sondern Stärken und Potenziale.

Projekt "Herterogenität in der Berufsausbildung"

Das Projekt "Heterogenität in Berufsorientierung und Ausbildung" verfolgt drei Ziele: Es zielt zunächst auf Beruflichkeit als Perspektive. Jugendliche und deren Eltern werden aufgeklärt und unterstützt, die Bedeutung von Beruf  und die damit verbundenen Chancen zu erkennen. Darauf baut das Ziel Ausbildung auf:  Junge Sinti und Roma werden zum einen unterstützt, einen Ausbildungsberuf auszuwählen, der zu ihrer persönlichen Lebenssituation passt und darüber hinaus bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz begleitet. Eine wichtige Rolle bei der Berufsfindung spielt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und zwar aufgrund der intensiven familiären Bindungen durchaus auch für Jungen.

Die Ziele werden auf drei Ebenen verfolgt:

  • Erste Bausteine richten sich an die Jugendlichen selbst:  In Beratungsgesprächen reflektieren sie ihre bisherigen Wege, arbeiten Vorerfahrungen mit beruflichen Bezügen heraus, erkennen Interessen und Stärken und finden Anknüpfungspunkte, informell erworbene Kompetenzen für berufliche Planungen zu nutzen. Workshops bieten Gelegenheit, Berufe kennenzulernen und sich außerhalb der Schule darin zu erproben.
  • Auf der Ebene der Eltern: gemeinsam mit sozialpädagogischen Fachkräften mit Romahintergrund spricht das Team Eltern in unterschiedlichen Formen an, um sie für die Perspektive Beruflichkeit als Unterstützer/-innen ihrer Kinder zu gewinnen. Diese Gespräche fanden zum ersten Mal mit vier Eltern in der Freien Schule Hamburg statt, an einem vertrauten Ort für die Eltern. Die Erfahrungen zeigen, dass die Eltern wenig Vorstellung von der Institution Schule und von der dualen Berufsausbildung haben. Sie setzen sich aber für die Bildung ihrer Kinder ein und wollen, dass sie lesen und schreiben lernen und nicht auf andere angewiesen sind. Das Gespräch zeigte, dass die Eltern stärker in die Berufsplanung und Berufsorientierung einbezogen werden wollen.
  • Auf der Ebene der beteiligten Akteure: Vertreter/-innen verschiedener im Übergang Schule - Beruf beteiligter Institutionen wie z.B. die Schulbehörde, der Roma-und-Sinti-Verein, der Verein Karola (Treffpunkt für Mädchen und Frauen), Gewerbeschulen und Bildungsbegleiter/innen aus der Roma-Community kommen zu Fachworkshops mit den oben genannten Zielen zusammen, tauschen sich aus und stimmen ihre Aktivitäten ab.

Ermutigende erste Erfahrungen

Erste Erfahrungen sind ermutigend: Im Rahmen des Modellversuchs führte das Team einen Workshop zum Kunsthandwerk gemeinsam mit einer Goldschmiedin in einem Atelier in Hamburg durch. Das Kunsthandwerk war ausgewählt worden, um Bezüge zur Geschichte der Sinti und Roma herzustellen. Das Thema hat den Jugendlichen gut gefallen. Eine Goldschmiedin zeigte selbst entworfene Schmuckstücke und erläuterte Techniken. Die Jugendlichen selbst konnten u. a. einen Messing- oder Kupferreifen herstellen. Anhand der Biografie der Goldschmiedin wurde der Ausbildungsberuf Goldschmied/in erklärt. Der Workshop endete mit einer Auswertung. 

Der Workshop kam bei den Jugendlichen gut an. Ein Großvater war selbst Goldschmied, Bezüge entstanden aber auch zu Materialien im Schrotthandel. Die Jugendlichen zeigten Interesse und arbeiteten motiviert. Einige entdeckten ganz neue Seiten bei sich, z. B. Geduld, Verständnis für die Materie, aber auch räumlich-technisches Verständnis und "soft skills" wie Hilfsbereitschaft. Die Workshops sollen mit anderen Berufen fortgesetzt werden.

Weitere Informationen

  • www.asm-hh.de
    Die Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten e. V. (ASM) wurde im März 2007 gegründet. Sie stellt für Menschen mit Migrationshintergrund in Hamburg Informationen rund um das Thema Berufsausbildung sowie Beratungs- und Weiterbildungsangebote bereit.

Quellen

Materialien