14.09.2022 | Redaktion | INES

Sanktionen verfehlen Wirkung

Erste wissenschaftliche Langzeitstudie zu Hartz IV-Sanktionen veröffentlicht

Hartz IV-Sanktionen verfehlen ihre Wirkung - das ist das Ergebnis der ersten wissenschaftlichen Langzeitstudie zu Sanktionen in der Grundsicherung. Anstatt Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen, haben Kürzungen bei Verstößen gegen Auflagen der Jobcenter einen einschüchternden Effekt und können sogar Krankheiten verursachen. Den Kontakt mit den Jobcentern empfinden die Befragten nicht als unterstützend, sondern oft als hinderlich. Die Studie wurde von Sanktionsfrei e.V. in Auftrag gegeben und vom Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (INES) durchgeführt.

Bild: ArtmannWitte/Adobe Stock

Eine Gruppe der Befragten bekam im Verlauf der Langzeitstudie quasi eine Versicherung gegen Sanktionen - der Verein Sanktionsfrei hat bei ihr alle finanziellen Kürzungen durch das Jobcenter bedingungslos ersetzt. Sowohl zu Beginn der Studie als auch nach sieben Online-Befragungen zeigt sich bei Personen mit aktuellem Bezug von Hartz-IV-Leistungen ein geringeres Maß an psychischen Ressourcen, sozialer Integration und sozialem Kontrollempfinden als bei Personen, die zum Befragungszeitpunkt zwar keine Hartz-IV-Leistungen bezogen haben, aber im Verlauf der Studie. Menschen, die aktuell auf die Unterstützung durch Hartz IV angewiesen sind, fühlen sich weniger sozial integriert und schätzen ihre psychischen Ressourcen schlechter ein. Die Autorinnen und Autoren der Studie schließen daraus: "Das psychosoziale Wohlbefinden wird durch das System "Hartz IV" beeinträchtigt und das ganz unabhängig davon, ob Sanktionen erfolgen oder diese finanziell ausgeglichen werden."

Umfassende Reform gefordert

Ab Januar 2023 soll Hartz IV durch das neue Bürgergeld ersetzt werden. Dafür müssen Bundestag und Bundesrat noch in diesem Herbst dem Gesetzentwurf zustimmen, der im August vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vorgelegt wurde. Nach aktuellen Verlautbarungen soll der Regelsatz ab dem 1.1.2023 um lediglich 50 Euro auf dann 500 Euro angehoben werden. Der Gesetzentwurf gibt den Jobcentern aber weiterhin die Möglichkeit, Sanktionen bis zu 30 Prozent zu verhängen. Bei der Vorstellung der Langzeitstudie kritisierten der Verein Sanktionsfrei, der Paritätische Gesamtverband und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Pläne der Ampel-Koalition für ein Bürgergeld als unzureichend. Sie forderten eine umfassende Reform der Grundsicherung, zu der auch zwingend eine substantielle, bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze gehöre.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), betonte, besonders in Krisenzeiten sei es essenziell, dass soziale Leistungen ausreichend und gleichzeitig verlässlich sind. Die Realität sei jedoch eine andere: "Die Leistungen für die Grundsicherung sind angesichts hoher Preissteigerungen, beispielsweise bei Lebensmitteln von fast 20 Prozent, zu gering. Durch Sanktionen sind diese Leistungen für viele Menschen auch nicht verlässlich." Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, forderte: "Es muss endlich Schluss sein mit den Armutssätzen. Sanktionen gehören restlos abgeschafft. Nur dann kann von einer Überwindung von Hartz IV und einem echten Bürger*innengeld gesprochen werden."

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