27.06.2011

Betriebsnah, modular und standardisiert

Nachqualifizierung in Süd- und Mittelthüringen als Beispiel guter Praxis

von Petra Lippegaus-Grünau

Nachqualifizierung gehört - trotz Fachkräftemangels - noch lange nicht zum Standardangebot in Deutschland. Angebotsstrukturen müssen noch etabliert, Netzwerke gebildet werden. Dieser Herausforderung haben sich die Handwerkskammern Südthüringen mit dem BTZ Rohr-Kloster und die Handwerkskammer Erfurt gestellt. Ihr Konzept, ihr Verbund und ihre Standards bilden ein Beispiel guter Praxis für dieses Handlungsfeld.

Fachkräftemangel auf der einen Seite - gering qualifizierte Personen, denen eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt nicht gelingt, auf der anderen. Die Herausforderung: an- und ungelernte Personen bis zum Berufsabschluss qualifizieren und dabei an vorhandene Kompetenzen anzuknüpfen. In Thüringen haben die Handwerkskammern Südthüringen mit dem BTZ Rohr-Kloster und die Handwerkskammer Erfurt die Initiative ergriffen. Sie haben Strukturen aufgebaut, die langfristig ein qualitativ hochwertiges Angebot an Nachqualifizierungen garantieren sollen. Dabei konnten sie auf Erfahrungen zurückgreifen, die in den 1990er Jahren in Thüringen durch Beteiligung an der Modellversuchsreihe zur abschlussorientierten Nachqualifizierung gesammelt worden waren.

Das Gesamtkonzept, das im Verbundprojekt der beiden Handwerkskammern entwickelt und umgesetzt wird, beruht auf einem betriebsnahen Qualifizierungskonzept, intensiver Netzwerkarbeit und umfassenden Qualitätsstandards sowohl für die einzelnen Phasen der Qualifizierungen als auch für die Kooperation im Netzwerk.

Die Netzwerkarbeit

Bild: Julia Berlin

Anders als Berufsvorbereitung, aber auch Umschulungen, ist Nachqualifizierung, noch dazu betriebsnahe modulare, in Deutschland kein Standardangebot. Netzwerkarbeit ist daher nicht nur nötig, um bestehende Angebote besser zu koordinieren oder weiterzuentwickeln, sondern um überhaupt Angebotsstrukturen zu etablieren. Dazu müssen im Netzwerk betriebliche Bedarfe, die Weiterbildungsnachfrage, das Angebot der Bildungsträger und die finanzierenden Institutionen zusammengeführt werden. An den Standorten des Verbundprojektes waren also die zuständigen Stellen, Agenturen für Arbeit, ARGEn, Betriebe und Bildungsträger, Jugendhilfeeinrichtungen, Jugendmigrationsdienste und Kompetenzagenturen für die Netzwerkarbeit zu gewinnen. Die Verbundpartner haben bestehende Netzwerke und Strukturen berücksichtigt und in die strategische Arbeit eingebunden, Ziele, Aufgaben und Verantwortlichkeiten in Kooperationsvereinbarungen festgelegt und Berichtstermine vereinbart. Die Koordination übernehmen derzeit die Handwerkskammern.

Das Nachqualifizierungskonzept

Die Zielgruppe für Nachqualifizierung ist in mehrfacher Hinsicht heterogen: Sie umfasst sowohl an- und ungelernte Beschäftigte als auch gering Qualifizierte aus den Rechtskreisen SGB III und SGB II im Alter zwischen 25 und ca. 50 Jahren mit unterschiedlichen Vorerfahrungen. Qualifizierungen, die auf diese unterschiedlichen Voraussetzungen eingehen, müssen deswegen zeitlich und inhaltlich individuell gestaltet werden. Die Qualifizierungen sind daher modular aufgebaut. Wo vorhanden, greift man auf existierende Bausteine, z.B. die Ausbildungsbausteine aus dem Programm Jobstarter Connect, zurück. Ansonsten werden die Module im Netzwerk entwickelt und von der zuständigen Stelle auf Vollständigkeit geprüft. Die Module sind außerdem nach der AZWV (Anerkennungs- und Zulassungsverordnung Weiterbildung) zertifiziert. Diese Zertifizierung ist notwendig, um Weiterbildungsmaßnahmen anbieten zu können, die durch die Bundesagentur für Arbeit über Bildungsgutscheine finanziert werden.
In der Durchführung gliedert sich die Qualifizierung in zwei zeitlich flexible Phasen: In einer Vorschaltmaßnahme, die zwischen vier Wochen und neub Monaten dauert, werden vorhandene Kompetenzen festgestellt und dokumentiert. Die Kompetenzbilanzierung, für die 40-80 Stunden vorgesehen sind, ist die Grundlage für die individuelle Qualifizierungsplanung. Auch erste Qualifizierungsmodule können in dieser Phase bei einem Bildungsträger durchgeführt werden. Ein ca. zweimonatiges Betriebspraktikum kann zur Vorbereitung auf die zweite Qualifizierungsphase, die überwiegend im Betrieb stattfindet, genutzt werden.

Das Gesamtkonzept beruht auf einem betriebsnahen Qualifizierungskonzept, intensiver Netzwerkarbeit und umfassenden Qualitätsstandards.

 

Diese zweite Phase kombiniert in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis Arbeiten und Lernen. Der betriebliche Anteil beträgt ca. 70 Prozent. Darüber hinaus übernehmen mit einem Zeitanteil von ca. 30 Prozent Bildungsträger Aufgaben wie die Vermittlung theoretischer Lerninhalte und Lernfortschrittskontrollen. Eine Qualifizierungsvereinbarung zwischen Teilnehmer/in, Betrieb und Bildungsträger regelt die Abläufe. Je nach individuellen Voraussetzungen werden die Qualifizierungen bis zu einer Dauer von 24 Monaten gefördert. (Bildungsgutscheine decken davon höchstens 36 Wochen verteilt auf zwei Jahre ab.)

Den Betrieben stehen Lehr-Lernaufträge zur Verfügung, mit denen Arbeitsaufträge vorbereitet oder Arbeitsprozesse und -ergebnisse reflektiert werden können. Diese Lehr-Lernaufträge wurden in einem ESF-finanzierten Begleitprojekt entwickelt.

Ein Qualifizierungspass des Thüringer Netzwerks Nachqualifizierung, der thüringenweit genutzt wird, ermöglicht es, vorhandene und im Verlauf der Qualifizierung erworbene Kompetenzen einheitlich zu beschreiben. Er ist eine wesentliche Grundlage für die Zulassung zur Abschlussprüfung nach § 45 (2) BBiG oder § 37 (2) HwO (sogenannte Externenprüfung). Nach dieser Regelung können Personen zu den regulären Berufsabschlussprüfungen zugelassen werden, die über Berufserfahrung von der mindestens anderthalbfachen Dauer der Ausbildungszeit verfügen oder die glaubhaft machen können, dass sie die notwendige berufliche Handlungsfähigkeit erworben haben.

Beide Qualifizierungsphasen werden über Bildungsgutscheine finanziert. In der zweiten Qualifizierungsphase können die Arbeitgeber darüber hinaus einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt für weiterbildungsbedingte Ausfallzeiten über das BA-Sonderprogramm WeGebAU (Weiterbildung geringqualifizierter und beschäftigter Älterer in Unternehmen) beantragen.

Die Standards

Den hohen Grad der Standardisierung bei gleichzeitig hoher Individualisierung der Qualifizierungen sieht die Projektleiterin Marion Kranz vom Berufsbildungs- und Technologie-Zentrum Rohr-Kloster als einen wesentlichen Faktor für Erfolg und Akzeptanz des Projekts. Standards sind festgelegt für die Prozesse vom Erstkontakt bis zur Externenprüfung. Auch, wie ihre Einhaltung überprüft wird, ist im Netzwerk geregelt. Die AZWV-zertifizierten Module, der gemeinsame Qualifizierungspass und die Lehr- und Lernaufträge, die den Netzwerkpartnern zur Verfügung stehen, sind weitere Elemente zur Vereinheitlichung. Dieses hohe Maß an Verbindlichkeit und Standardisierung wird, so die Zuversicht von Marion Kranz, den Aufbau nachhaltiger Strukturen auch über das Ende der Projektlaufzeit hinaus ermöglichen. In Suhl und Erfurt werden bisher 126 Personen zum Berufsabschluss qualifiziert. 18 Personen haben schon an Abschlussprüfungen teilgenommen, davon haben 17 ihre Prüfungen bestanden und sind dauerhaft beschäftigt.