10.11.2014

Viele Partner, ein Ziel - das Förderjahr als Einstieg in die duale Berufsausbildung

Praxisbericht über das Projekt "Chance M+E" in Baden-Württemberg

von Karin Maria Rüsing

Den meisten Jugendlichen gelingt der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung ohne spezielle Unterstützung. Ein beträchtlicher Anteil jedoch hat Schwierigkeiten, nach dem Schulabschluss eine Anschlussperspektive für sich zu entwickeln. Diese jungen Menschen haben am Ende ihrer Hauptschulzeit entweder noch weiteren Förderbedarf, oder sie haben sich bislang erfolglos um einen Ausbildungsplatz bemüht. Sie sind die Zielgruppe, an die sich das von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern in Baden-Württemberg gemeinsam getragene Projekt "Chance M+E" richtet.

Klick zum VergrößernAbsolventen des ersten Förderjahres. Bild: BBQ Berufliche Bildung gGmbH

Chance M+E ist die praktische Umsetzung des vom Arbeitgeberverband Südwestmetall und von der IG Metall Baden-Württemberg geschlossenen Tarifvertrags "Förderjahr", der im Frühjahr 2012 zusammen mit der Sozialpartnervereinbarung "Vom Einstieg zum Aufstieg" unterzeichnet wurde. Die Tarifpartner regeln darin die Maßnahmen zur Fachkräftesicherung in der Metall- und Elektrobranche in Baden-Württemberg und bekennen sich gemeinsam dazu, gesellschaftspolitische Verantwortung für benachteiligte Jugendliche zu übernehmen. Das Beispiel macht Schule: Inzwischen hat auch der Verband der südwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie einen Tarifvertrag geschlossen und der Bundesverband Schmuck und Uhren beteiligt sich in der Region Pforzheim.

Das Projekt Chance M+E hat darüber hinaus den Anspruch, Branchenstandards in der Ausbildungsvorbereitung zu etablieren. Das Förderjahr ist ganz ausdrücklich kein erstes Ausbildungsjahr. Es ist abgekoppelt von der Ausbildung, aber keine Sonderform. Das Ziel des Förderjahrs ist die Befähigung für den Einstieg in eine reguläre duale Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG). Neben der Gewerkschaft und dem Arbeitgeberverband gibt es noch einen dritten Projektpartner, die Berufliche Bildung gGmbH (BBQ), ein Tochterunternehmen des Bildungswerks der Baden-Württembergischen Wirtschaft e. V. Als Bildungsträger ist BBQ für die Umsetzung des Konzepts und die sozialpädagogische Betreuung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zuständig.

Praktische Umsetzung

Für die praktische Umsetzung bedienen sich die Beteiligten eines gut eingeführten Instruments, das sie für ihre Anforderungen modifiziert haben. Seit 37 Jahren gibt es in Baden-Württemberg das Berufspraktische Jahr (BPJ 21), dessen Ziel die berufliche Eingliederung von arbeitslosen jungen Menschen unter 25 Jahren ist. Die Unterschiede sind klein, aber bedeutsam. Während BPJ 21 branchenoffen ist, orientiert sich das Förderjahr mit seinen Lehr- und Lerninhalten an den Bedürfnissen spezieller Branchen. Im Förderjahr ist der Hauptlernort der Betrieb, nicht eine außerschulische Einrichtung. BPJ 21 wird gefördert durch die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter, das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg, den Europäischen Sozialfonds und den Arbeitgeberverband Südwestmetall. Dies ist auch die Förderkulisse für Chance M+E. Das Pilotprojekt startete im Herbst 2012 in Heilbronn und in Stuttgart. Seit Herbst 2013 gibt es das Projekt auch in Heidelberg, Pforzheim und in der Region Schwarzwald-Hegau.

"Warum machen wir das?" Auf diese Frage hat Stefan Küpper vom Arbeitgeberverband Südwestmetall eine Antwort in zwei Teilen: "Die großen Autobauer waren 2012 die Vorreiter", berichtet er. "Für sie ist dieses Engagement Teil ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Für kleine und mittlere Betriebe ist das Förderjahr inzwischen ein gutes Instrument zur Fachkräftesicherung." Diese Einschätzung teilt auch Martin Sambeth, Sekretär der Gewerkschaft IG Metall Baden-Württemberg: "Wir haben ein beachtliches Potential an zukünftigen qualifizierten Fachkräften identifiziert", stellt er fest.

Christine Laupp-Pötzsch ist beim Bildungsträger BBQ zuständig für Chance M+E in der Region Pforzheim und Umgebung. Sie weiß, wer Mühe hat einen Ausbildungsplatz zu finden, dem mangelt es noch lange nicht an Fähigkeiten oder Motivation. Manchmal fehlt einfach das nötige Quäntchen Glück. Zum Beispiel, wenn der Ausbildungsbetrieb in Konkurs geht, oder ein Unfall den geplanten Einstieg ins Arbeitsleben unmöglich macht. Oder das Abschlusszeugnis ist schlecht, weil die persönlichen Interessen nicht im schulischen Arbeiten liegen. "Wir erleben," berichtet sie, "dass die jungen Menschen sehr schnell verstehen, wie sie im Förderjahr eine ganz konkrete Chance auf eine berufliche Laufbahn bekommen, an die sie selbst oft schon nicht mehr geglaubt haben. Und dann hängen sie sich rein." Der Erfolg gibt ihr Recht. Im Oktober 2013 starteten in Pforzheim 13 junge Männer in das Förderjahr, ein Jahr später konnten fast alle ihre Zertifikate entgegennehmen. Neun von ihnen hatten einen Ausbildungsvertrag in der Tasche, einer einen Arbeitsvertrag, ein weiterer ging zur Bundeswehr, nur zwei konnten das Kursziel nicht erreichen. Vermittlungsquoten von 70 bis 80 Prozent sind bei Chance M+E nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Die Inhalte des Förderjahrs beziehen sich auf drei Qualifikationsebenen der Teilnehmer: Da sind zunächst die kognitiven Fähigkeiten, worunter in diesem Zusammenhang vor allem sprachliche Fähigkeiten wie mündlicher und schriftlicher Ausdruck sowie Rechenfähigkeit verstanden werden. Bei der Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten geht es darum, Ausbildungsreife in Bezug auf das Sozialverhalten zu erlangen. Dazu gehören etwa das Einfügen in den Betriebsablauf und der angemessene Umgang mit anderen. Branchenbezogene Grundkenntnisse runden das Trainingsprogramm ab.

Beispiel Pforzheim

In der Goldstadt Pforzheim wird Chance M+E mit Metall und Edelmetall übersetzt. Hier beteiligt sich neben dem Arbeitgeberverband Südwestmetall auch der Bundesverband Schmuck und Uhren am Förderjahr. Von den 29 Unternehmen, die sich in Baden-Württemberg engagieren, sind zehn in Pforzheim und Umgebung ansässig. Sie bieten in diesem Jahr 15 von insgesamt 70 Plätzen im ganzen Land an. Eine Verpflichtung zur Teilnahme am Förderjahr besteht für tariflich gebundene Unternehmen nicht. Wenn sie sich jedoch beteiligen, dann gelten die Regelungen des Tarifvertrags. Darin ist zum Beispiel festgelegt, dass die Absolventen des Förderjahrs einen Anspruch auf ein qualifiziertes Vorstellungsgespräch im Unternehmen haben, es gibt jedoch keine Übernahmegarantie. Bei gleicher Eignung werden sie aber vor anderen Bewerbern berücksichtigt. In der Folge binden einige Firmen die Zusage gleich an einen bestimmten Arbeitsbereich und suchen zum Beispiel jemanden, der später eine Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker mit Schwerpunkt Blechbearbeitung beginnt. Weitere Bestandteile des Tarifvertrags sind für die Teilnehmer der verpflichtende Berufsschulbesuch an einem Tag der Woche und ein weiterer Tag für die Persönlichkeitsentwicklung beim Bildungsträger. Fachpraxis erwerben sie an drei Tagen der Woche im Unternehmen.

"Wir sehen im Förderjahr, dass Jugendliche mit der richtigen und intensiven Betreuung erfolgreich ihre Ausbildungsreife erreichen und gute Chancen haben, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen."

 

Der Tarifvertrag regelt auch die Vergütung der Teilnehmer. Sie erhalten 250 Euro im Monat, die aufgestockt werden durch 216 Euro aus Fördermitteln für eine Einstiegsqualifizierung nach § 54a SGB III. Daraus ergibt sich, dass die Arbeitsagenturen und Jobcenter interessierte Jugendliche dem Programm zuweisen. Auch hier spielen die guten Kontakte, die alle Beteiligten miteinander verbinden, eine wichtige Rolle. Auf dem kurzen Dienstweg wird geklärt, welche Kandidaten geeignet sein könnten. "Unser Erfolg lebt vom Dürfen, nicht vom Müssen", beschreibt Laupp-Pötzsch die Auswahlkriterien. Auch die Unternehmen schlagen Kandidaten vor. Sie sichten dafür noch einmal die Unterlagen der abgelehnten Bewerber. Wie im Vorjahr gibt es im Förderjahr 2014/2015 keine Frauen unter den Teilnehmern. In Pforzheim wundert das niemanden. Nach den dort gemachten Erfahrungen sind junge Frauen, die sich für eine Ausbildung in einem eher frauenuntypischen Beruf entscheiden, in aller Regel so gut qualifiziert, dass sie keine weitere Unterstützung benötigen.

Die gute Akzeptanz des Förderjahrs in der Region führt Christine Laupp-Pötzsch auf das große persönliche Engagement aller Beteiligten zurück. Für die Akquise der Unternehmen war zum Beispiel nicht nur der Bildungsträger zuständig, einen großen Teil der Überzeugungsarbeit übernahm der Bevollmächtigte der IG Metall, Martin Kunzmann. Die Heinrich-Wieland-Schule richtete die Berufsschulklasse ein. Dank der Unterstützung des Kultusministeriums ist für die Absolventen des Förderjahrs landesweit eine gemeinsame Beschulung in eigenen Klassen möglich (Stichwort Kleinklassenteiler).

Wenn Interessenten und Unternehmen zueinandergefunden haben, unterzeichnen alle Beteiligten, Arbeitgeber, Teilnehmer und Bildungsträger, einen Fördervertrag. Darin sind die Dauer und der Inhalt der Förderung festgehalten, die Rechte und Pflichten des Jugendlichen und die Vergütung entsprechend den Tarifbestimmungen. In Pforzheim beginnt das Förderjahr am 1. Oktober und endet am 31. August des Folgejahres. Der Fördervertrag gilt als erfolgreich durchlaufen, wenn nach Ansicht des Förderbetriebs sowohl die Fachkenntnisse als auch das gezeigte Arbeits-, Leistungs- und Sozialverhalten die Beurteilung des Teilnehmers als ausbildungsreif rechtfertigen und eine günstige Prognose hinsichtlich der Bewältigung der angestrebten Ausbildung zulassen. Nach erfolgreichem Abschluss des Förderjahrs erhalten die Absolventen ein Zertifikat im Rahmen einer offiziellen Abschlussfeier.

Johannes Krumme ist Diplom-Pädagoge und beim Arbeitgeberverband Südwestmetall verantwortlich für den Bereich Schul- und Berufsbildungspolitik. Nach der gelungenen Ausdehnung des Programms auf kleine und mittlere Betriebe im Jahr 2013 zieht er eine positive Bilanz: "Wir sehen im Förderjahr, dass Jugendliche mit der richtigen und intensiven Betreuung erfolgreich ihre Ausbildungsreife erreichen und gute Chancen haben, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen."

Weitere Informationen

  • BBQ Berufliche Bildung GmbH
    Die BBQ Berufliche Bildung GmbH ist ein gemeinnütziger Bildungsträger und verfügt über ein dezentral organisiertes Netzwerk in ganz Baden-Württemberg.