22.09.2015

Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen so frühzeitig und passend wie möglich

Das Modellprojekt "Early Intervention" und seine Umsetzung in Bremen

von Monika Bethscheider

Das Modellprojekt "Early Intervention" bietet Qualifizierungsangebote für Flüchtlinge und eröffnet Arbeitsagenturen, Betrieben, Bildungs- und Sozialversicherungsträgern sowie Flüchtlingen und ihren Hilfsorganisationen Kooperationsmöglichkeiten.

Angesichts der anhaltend hohen Zugangszahlen von Flüchtlingen und gleichzeitig spürbarem Fachkräftebedarf in Deutschland wächst das politische Bemühen, berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die Asylsuchende aus ihren Herkunftsländern mitbringen, schnellstmöglich zu identifizieren und für den Arbeitsmarkt nutzbar zu machen. Dafür sind zum einen Förder- und Qualifizierungsangebote notwendig, die auf die unterschiedlichen Bedarfe passen und möglichst schnell zugänglich sind. Zum anderen bedarf es einer Unterstützungsstruktur, die allen Beteiligten - Arbeitsagenturen, Betrieben, Bildungs- und Sozialversicherungsträgern sowie den Flüchtlingen und ihren Hilfsorganisationen - sinnvolle Kooperationsmöglichkeiten eröffnet. In diesen Zusammenhang gehört das Modellprojekt "Early Intervention".

Voraussetzungen für die Teilnahme

Das Projekt wurde Anfang 2014 von der Bundesagentur für Arbeit (BA) gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem von Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten Bundesprogramm "XENOS - Arbeitsmarktliche Unterstützung für  Flüchtlinge und Bleibeberechtigte" initiiert mit dem Ziel, "die Potenziale von Flüchtlingen für den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft stärker zu berücksichtigen und sie frühzeitig - also schon während der laufenden Asylverfahren - in Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration einzubeziehen". Beim Start 2014 sollten zunächst sechs Modellstandorte ein Jahr lang gefördert werden. Darauf folgte eine Erweiterung um weitere drei Standorte für das Jahr 2015. Ende 2015 wird die Modellprojekt-Phase abgeschlossen, im Jahr 2016 ist eine Ausweitung geplant.

Einer Vereinbarung von BA und BAMF folgend, soll Asylsuchenden aus Ländern mit hoher Schutzquote und  einer geringen Rückführungszahl die Teilnahme ermöglicht werden, da man davon ausgeht, dass diese Personen dem Arbeitsmarkt mittel- und langfristig zur Verfügung stehen werden. Dabei handelt es sich um Ägypten, Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Pakistan, Somalia, Sri Lanka und Syrien. Durch diese Vorgaben sind Flüchtlinge aus anderen Ländern aber nicht per se ausgeschlossen.

Ist die Zuständigkeit Deutschlands für das Asylverfahren vom BAMF geklärt, so liegt die Entscheidung über eine Aufnahme in das Projekt bei der vor Ort zuständigen Fachkraft der Agentur für Arbeit. Die Offenheit dieser administrativen Vorgabe macht es möglich, bei der Durchführung des Projekts auch spezifische Rahmenbedingungen und Erfordernisse der einzelnen Standorte zu berücksichtigen, um angesichts einer ganz neuen Klientel "typische Fallkonstellationen" identifizieren und Erkenntnisse darüber gewinnen zu können, ob die vorhandenen Förderinstrumente greifen.

Kontaktaufnahme

Über die endgültige Aufnahme eines Flüchtlings in das Projekt entscheidet vor Ort die zuständige Vermittlungsfachkraft; in Bremen ist dies die Mitarbeiterin der örtlichen Arbeitsagentur, Angela Touré. Über das BAMF erhält sie Listen mit den Namen von  Flüchtlingen, die ihre Bereitschaft zu einer möglichen Aufnahme in das Projekt bekundet haben. Eine Vorauswahl trifft das  BAMF nicht: "Da waren Analphabeten darunter, da waren schwangere Frauen darunter und Leute, die gar nicht arbeitsfähig waren, und auch Hochqualifizierte oder Handwerker", berichtet Angela Touré. All diese Personen lud sie in der Vergangenheit per Post zu einer Informationsveranstaltung ein. Am Anfang folgten fast alle Flüchtlinge der schriftlichen Einladung, aber schon nach zwei Monaten kam fast niemand mehr. Wie ihre Recherchen ergaben, hatte die Post viele der  Adressaten gar nicht erreicht, weil die Aufnahmestelle durch den hohen Flüchtlingszugang irgendwann völlig überlastet war und die Briefe nicht mehr zustellen konnte. Zudem wurden neu angekommene Flüchtlinge schnell umverteilt, und die aktuellen Adressen erhielt auch das Bundesamt nicht gleich.

"Wir können nicht mehr vom Schreibtisch aus Einladungen verschicken."

 

Damit ihre Post die Empfänger erreichte, begann Angela Touré, selbst in die  Wohnheime zu gehen und  ihre Einladungen persönlich vorbeizubringen. Die Informationsveranstaltung führte sie nun vor Ort durch, denn "so bekam man auch mal einen Eindruck von den Lebensbedingungen im Wohnheim". Als sich herausstellte, dass viele der  Flüchtlinge ein Handy besitzen, reagierte sie auch darauf pragmatisch mit der Beschaffung eines Diensthandys,  das sie heute als ihr "wichtigstes Arbeitsmittel"  bezeichnet. Sie verschickt damit SMS ("'Please call me, I would like to see you' oder eben das, was gerade anliegt. Das funktioniert schon.") oder ruft Flüchtlinge an. Bei Sprachproblemen zieht sie einen Dolmetscher hinzu, der notwendige Informationen an die Adressaten weitergibt. Der Kontakt mit den Flüchtlingen kann so auf unkomplizierte Weise hergestellt und aufrechterhalten werden, weil sie als Vertreterin einer Behörde ihrer Klientel völlig unvoreingenommen begegnet: "Ich habe gefragt, wo sind die Eritreer, ich habe hier welche auf der Liste und komme nicht an sie heran. Sie haben auf schriftliche Einladungen nicht reagiert, und ich habe mir gedacht, dass es nicht mangelndes Interesse ist, sondern dass sie die Briefe wahrscheinlich nicht bekommen oder nicht verstehen. Es stellte sich heraus, sie hatten tatsächlich ein Hindernis, nämlich keine Fahrkarte. Dann bin ich da hingefahren." Angela Touré war bereits zwölf Jahre lang im Außendienst tätig, so dass ihr "dieses Rausgehen" nicht schwer fällt.

Aufnahmekriterien

Das Projekt "Early Intervention" hat den Auftrag, Erkenntnisse zu gewinnen über Potenziale, die Flüchtlinge mitbringen und über Möglichkeiten, die Entfaltung und Nutzung dieser Potenziale wirkungsvoll zu unterstützen. Die dafür notwendige Feststellung von Abschlüssen und Erfahrungen aus den Herkunftsländern ist, wie die vom IAB durchgeführte Evaluation ergab, ein "kritischer" Punkt im Projekt: Nicht nur fehlende Dokumente, auch unterschiedliche Schul-, Ausbildungs- und Studiensysteme, Arbeitsmärkte und Berufsanforderungen in den Herkunftsländern erschweren eine systematische Erfassung und Einschätzung der Vergleichbarkeit zu deutschen Verhältnissen. Gesprächsdiagnostische wie schriftliche Erhebungsverfahren scheitern an sprachlichen Schwierigkeiten und kulturellen Unterschieden, etwa im Umgang mit Formularen. Die Anerkennungsstellen arbeiten mit langen Wartezeiten; zudem ist das Verfahren zur Kenntnisfeststellung (Arbeitsproben,  Fachgespräche, Sachverständigengutachten, theoretische und praktische Prüfungen) aufwändig und kostenintensiv, wenn keine Nachweise vorhanden sind.

Im Standort Bremen stellen die vom Bundesamt übernommenen Flüchtlinge die größte Gruppe. Das Projekt ist aber auch offen für einige, die über das Bremer Bleiberechtsnetzwerk vermittelt wurden oder auf eigene Initiative kamen, weil sie über Freunde von Early Intervention gehört hatten. Neben Flüchtlingen aus den Herkunftsländern mit hohen Anerkennungsquoten wurden in Abstimmung mit dem Bundesamt auch drei Teilnehmer aus anderen Staaten aufgenommen. Dies geht auf die in Bremen vorgenommene Interpretation der Zuweisungskriterien für Early Intervention zurück: Die Merkmale "Motivation/ Lernfähigkeit", "Hochschulbildung" und "Verwertbarkeit Berufsabschluss/ Berufserfahrung" werden in den einzelnen Modellstandorten unterschiedlich bewertet und in Bremen unter Berücksichtigung der lokalen Arbeitsmarktlage auch Teilnehmer aufgenommen, die keinen Schul- oder Berufsabschluss, wohl aber zum Beispiel gut verwertbare Erfahrungen als Handwerker haben.

"Potenzial hat was zu tun mit Motivation, mit brauchbaren Berufserfahrungen. Das heißt nicht unbedingt, dass jemand einen Schulabschluss haben muss oder einen akademischen Abschluss."

 

Von Bedeutung sind dann auch personale Kompetenzen wie Zuverlässigkeit und Ausdauer, die eine Eignung für eine Ausbildung oder ein Studium erwarten lassen. Nicht immer können Flüchtlinge ihre  Kompetenzen auch formal nachweisen, berichtet Angela Touré: "Ich habe mehr als 50 Prozent Ausbildungsfähige dabei, die haben eine Qualifikation, aber sie ist hier nicht brauchbar oder es ist unrealistisch, in kurzer Zeit in den Beruf einzumünden (z.B. Juristen). Es sind auch viele dabei, die das Potenzial und das Interesse haben, eine Ausbildung zu machen, im handwerklichen Bereich zum Beispiel die Eritreer, die keinerlei Nachweise haben über ihre Schulbildung. Da muss man dann eben glauben, dass sie zehn Jahre die Schule besucht haben und sie entwickeln sich ja im Sprachkurs auch sehr gut."

Als Grundlage der Entscheidung über die Aufnahme dient das "Mini-Arbeitspaket", eine DIN A 4-Seite mit groben Angaben zur Person, beruflichem Lebenslauf und Sprachkenntnissen, das in einem ersten Gespräch (auf Englisch oder mit Hilfe von Dolmetschern) gemeinsam mit der Vermittlerin ausgefüllt wird. Hier zeigen sich häufig bereits berufliche Fähigkeiten, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen einen ersten Eindruck von der Persönlichkeit und Motivation des Bewerbers. Die Flüchtlinge erhalten eine mehrsprachige Erklärung, die sie unterschreiben müssen, um am Projekt teilnehmen zu können. Auf dieser Grundlage  werden dann die Personen ausgewählt, die als "arbeitsmarktnah" gelten und zu einer genaueren Ermittlung ihrer Kompetenzen in die Arbeitsagentur eingeladen.

Vermittlung in Betriebe

Erklärtes Ziel von Early Intervention ist es, Flüchtlinge möglichst frühzeitig - also noch während des laufenden Asylverfahrens - in den Arbeitsmarkt zu integrieren oder in individuell passende Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration einzubeziehen. Damit dies gelingen kann, ist neben der Einschätzung beruflicher Kompetenzen und Potenziale der Flüchtlinge auch eine möglichst genaue Kenntnis der Bedürfnisse des regionalen Arbeitsmarktes und der Betriebe notwendig. Die für die Vermittlung verantwortliche Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit verfügt aus früherer Berufstätigkeit noch heute über Kontakte zum Bremer Arbeitgeberservice und vielen im Raum Bremen ansässige Firmen. Immer wieder melden sich Betriebe auf der Suche nach Arbeitskräften. Angela Touré geht es bei der Vermittlung immer um den Fachkräftebedarf: "Der Fokus liegt ja bei Fachkräften, und den erfüllen wir auch, wenn wir junge Leute ohne Berufserfahrung oder abgeschlossene Ausbildung in die Handwerksberufe, in Mangelberufe wie zum Beispiel in der Pflege orientieren. Ich habe keine Leute ausgesucht, die ich  nicht in Fachkrafttätigkeiten bringen möchte. Das ist das Ziel bei jedem."

Im Kontakt mit den Firmen zeigt sich, dass viele von ihnen nicht nur Fachkräfte suchen, sondern auch  erhebliche Schwierigkeiten haben, Auszubildende zu finden. Deshalb bot etwa ein großer Bremer Metallbetrieb im Schiffsbau eigens Einstiegsqualifizierungen für Jugendliche an. Folglich werden Flüchtlinge über Early Intervention auch in Ausbildung vermittelt. Dies kommt auch denjenigen entgegen, die über praktische Fähigkeiten, nicht aber über Dokumente aus ihrem Herkunftsland verfügen und keine Externen-Prüfung ablegen, sondern lieber "eine ganz neue Ausbildung in Deutschland" machen wollen. Ein deutscher Gesellenbrief gilt als Papier, mit dem man "auch wieder woanders was anfangen" kann, und in manchen Berufen wird eine eigene Ausbildung als weit attraktiver angesehen als ein Anerkennungsverfahren.

"Ich komme aus dem Arbeitgeberservice und kenne den Arbeitsmarkt in Bremen. Ich weiß, wo die Bedürfnisse sind. Die sind nicht unbedingt auf der höchsten Fachkräfteebene."

 

Ähnliches gilt für Praktika. Eine wichtige Erfahrung der Projektpartner ist, dass die "Papiergläubigkeit" bei Arbeitgebern langsam abnimmt und sie sich zunehmend auf "tatsächlich gesehene Kompetenzen" verlassen. Darum herrscht Einigkeit darüber, dass Praktika sowohl für die Flüchtlinge als auch für potenzielle Arbeitgeber von großer praktischer Bedeutung sind. Gerade in nicht-reglementierten Berufen können Praktika nach Einschätzung von Angela Touré eine Möglichkeit darstellen,  beruflich qualifizierte Flüchtlinge auch ohne Anerkennungsverfahren in den Arbeitsmarkt zu integrieren: "In Bereichen, wo nicht ausdrücklich ein Gesellenbrief verlangt ist, können wir eigentlich auf das Anerkennungsverfahren verzichten. Die Arbeitgeber sind zum Teil in solch einer Not, dass sie gar keine Gesellenbriefe mehr verlangen. Die testen lieber praktisch aus, kann derjenige das? Das geht in ganz vielen Bereichen, das gilt auch im IT-Bereich usw. Da kommt es einfach drauf an, dass man es kann. Und das kann man im Praktikum beweisen."

Angesichts der Bedeutung, die praktische Erfahrungen im Betrieb für die Flüchtlinge bei der Vorbereitung auf den deutschen Arbeitsmarkt haben, sprechen sich alle Projektbeteiligten für eine Praktikumsdauer aus, die Einblicke in die berufliche Praxis sowie die damit verbundenen sprachlichen und sozialen Lernprozesse ermöglicht. Als zeitlichen Rahmen  - je nach Einzelfall zu entscheiden - schlagen sie eine Dauer von sechs bis sieben Wochen vor. Wichtig ist auch eine angemessene Bezahlung. 

In konsequenter Umsetzung des Ursprungsgedankens von Early Intervention werden in  Bremen ausschließlich Flüchtlinge in das Projekt aufgenommen, die ganz neu in Deutschland eingereist und deshalb besonders auch auf Sprachförderung angewiesen sind. Von ursprünglich 123 Personen sind  zehn Personen aufgrund von Fortzügen ausgeschieden, die Verbleibenden wurden überwiegend in Praktika vermittelt. Es zeigt sich immer wieder, dass  Arbeitgeber mit der Leistung der Flüchtlinge sehr zufrieden sind, ihre Deutschkenntnisse für eine Arbeitsaufnahme aber noch nicht ausreichen. Dies gilt insbesondere für höherqualifizierte Tätigkeiten und für die in reglementierten Berufen erforderlichen Anerkennungen. Bis zum 15.09.15 konnte daher bisher nur eine Teilnehmerin in eine sozialversicherungspflichtige Halbtagsbeschäftigung in der Flüchtlingsbetreuung integriert werden. Es handelt sich um eine der wenigen Projektteilnehmer/innen, die schon vor 2014 eingereist war und daher bei Aufnahme in das Projekt bereits über Deutschkenntnisse verfügte, die sie nun weiter verbessert. Drei weitere Teilnehmerinnen haben ab 01.09.15 eine Einstiegsqualifizierung zur Medizinischen Fachangestellten begonnen; sie hatten einen zwölfmonatigen Intensivkurs des Modellprojekts besucht und benötigen noch weiterhin eine Deutschförderung. Ein anderer Teilnehmer besucht seit dem 01.09.15 ein Studienkolleg in Hamburg, um einen Hochschulzugang zu erwerben. Die erforderlichen Sprachkurse hat er selbst finanziert. Für fünf  weitere Teilnehmer liegen konkrete Ausbildungs- bzw. Arbeitsstellenzusagen vor. Die Arbeitgeber warten ab, bis die erforderlichen Deutschkenntnisse vorhanden sind - die Flüchtlinge hoffen dafür seit Ende Juni 2015 auf einen weiterführenden Deutschkurs.

Sprachförderung

Die Begleitforschung des bundesweiten Early Intervention-Projektes formuliert als ein allen individuellen Fallverläufen gemeinsames Ergebnis, dass fehlende deutsche Sprachkenntnisse "die erste generell zu überwindende Hürde" sind. Es gilt, "die Teilnehmer möglichst schnell in qualitativ hochwertige Deutschkurse zu integrieren, wenn man das Ziel verfolgt, sie entsprechend ihrer beruflichen Potenziale auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln." Alle vom IAB befragten Teammitglieder der  verschiedenen  Standorte bewerten die Deutschförderung als existenziell  und unabdingbar für den Projekterfolg. Zugleich kritisieren sie in diesem Zusammenhang  das Fehlen eines flächendeckenden Deutschkursangebotes und die Abstimmung zwischen Maßnahmen, die vom Europäischen Sozialfonds, nach Landesrecht oder von der BA finanziert werden, als unzureichend. Der Zugang zu Integrationskursen setzt einen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Auf diesen Status aber müssen selbst Schutzsuchende, die berechtigterweise eine Anerkennung als Flüchtling erhoffen, zum Teil lange warten, so dass sie Zeit mit erzwungener Untätigkeit verlieren und zusätzlichen Belastungen ausgesetzt sind.

"Ohne Deutschkurs ist das ganze Projekt hinfällig."

 

Im Konzept der Bundesagentur für Arbeit war eine Förderung von Basiskenntnissen der deutschen Sprache zunächst gar nicht vorgesehen. Als Instrument zur Vermittlung der Sprachkenntnisse, die eine Integration in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung voraussetzt, hielt man ESF-BAMF-Kurse für ausreichend, weil in diesen berufsbezogene Deutschkenntnisse vermittelt werden. Möglicherweise ging man auch davon aus, dass insbesondere die Zielgruppe der Akademiker keiner sprachlichen Grundförderung bedürfe, weil  hier vielfach englische Sprachkompetenzen vorausgesetzt werden könnten und zur Verständigung ausreichten. Dies aber traf nicht zu. Zum einen wurden in Bremen keineswegs allein Akademiker in das Projekt aufgenommen, zum andern kommt auch in technischen Arbeitsfeldern vielfach die deutsche Sprache mit zum Einsatz. Darüber hinaus erwies sich  die  ausschließliche Orientierung am ESF-BAMF-Sprachkursangebot in der Praxis schon deshalb als unrealistisch, weil jüngste Mittelkürzungen in diesem Programm zu einer erheblichen Reduktion der Kursplätze geführt haben. Angesichts eines avisierten Teilnehmerschlüssels von 100 Flüchtlingen pro Fachkraft im Modellprojekt konnte die Anzahl von nur 20 Plätzen, die pro Standort vorgesehen waren, nicht ausreichen.

Zudem zeigte sich immer wieder als eine grundlegende und für viele Flüchtlinge nicht zu überwindende Hürde, dass sie für die Teilnahme an einem ESF/BAMF-finanzierten Kurs schon Grundkenntnisse der deutschen Sprache mitbringen müssen (Niveau A 1 des GER). Diese Kenntnisse aber haben gerade neu eingereiste Schutzsuchende in der Regel noch nicht. Um diese Lücke zu füllen, werden in Bremen vereinzelt frei gebliebene Plätze in Sprachkursen mit Asylsuchenden belegt, ehrenamtliche Angebote zur "Deutschversorgung" von Flüchtlingen genutzt oder Kurse in Übergangswohnheimen angeboten. Ein kontinuierlicher Unterricht, der einen systematisch voranschreitenden Spracherwerb ermöglicht und die individuellen Lernvoraussetzungen der Teilnehmenden berücksichtigt, ist in den Heimen angesichts des häufigen Bewohnerwechsels jedoch nicht zu leisten. Zudem befinden sich unter den Flüchtlingen Personen mit Vorkenntnissen der deutschen Sprache ebenso wie Personen, die zunächst die lateinische Schrift erlernen und Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die von Grund auf alphabetisiert werden müssen.

Angesichts dieser Gegebenheiten spielt die Forderung nach einer zügig beginnenden Sprachförderung in den Erfahrungen und Verbesserungsvorschlägen der Projektverantwortlichen in Bremen eine zentrale Rolle. Dabei geht es um die Notwendigkeit, die Integrationskurse zu öffnen oder andere Kurse zum Erwerb von Grundkenntnissen der deutschen Sprache bereit zu stellen, die für alle Asylsuchenden und möglichst zeitnah zur Einreise angeboten werden. Diese Forderung wird gerade angesichts der jüngsten Gesetzesänderungen formuliert, da nun grundsätzlich alle Asylsuchenden und Geduldeten arbeiten und nach 15 Monaten ohne Vorrangprüfung in den Arbeitsmarkt einmünden dürfen. Dies sollte mit der Chance verbunden werden, auch deutsche Sprachkenntnisse zu erwerben. Wichtig sind auch realitätsgerechte Erwartungen an die zeitlichen Rahmenbedingungen des Erwerbs berufsbezogener Sprachkenntnisse. Angesichts zahlreicher unbesetzter (Ausbildungs-) Stellen in Deutschland gelten Flüchtlinge bisweilen als "die neuen Hoffnungsträger für die Fachwelt, die motiviert sind und per Express-Kurs plötzlich funktionieren sollen". Die Erfahrung von Anja Wohlers, Koordinatorin der berufsbezogenen Deutschförderung in Bremen, ist eine ganz andere: Um im Beruf bestehen zu können, genügt es nicht, eine gewisse Anzahl von Fachbegriffen zu beherrschen. Der Sprachlernprozess braucht Zeit und ist in der Regel nicht innerhalb einiger Monate zu bewältigen.

Vernetzung

In der Gesamtevaluation wird die Netzwerkarbeit ausdrücklich als eine positive Folge des Modellprojekts hervorgehoben. Dies geschieht zum einen mit Blick darauf, dass Wissen unter den beteiligten Partnern transferiert und paralleles Arbeiten durch Kooperationen vermieden werden kann. Zum anderen hat die Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und Behörden vor Ort eine vertrauensbildende Wirkung, die auch jenseits des Projektes langfristig strukturelle Verbesserungen erwarten lässt, weiß Angela Touré: "Ich habe hier immer kurze Wege gehabt. Das Jobcenter ist im Haus, der Arbeitgeberservice ist um die Ecke, die Berufsberatung ist im Haus. Ich kenne jeden persönlich; ich bin immer direkt hingegangen und habe auch im Arbeitgeberservice zum Beispiel über Early Intervention berichtet. Und mir wird zugearbeitet, die Kollegen kommen zu mir und sagen Bescheid, wenn Firmen Arbeitskräfte suchen."

Handwerks- und Handelskammer haben inzwischen in ihren Mitgliederzeitschriften über das Projekt berichtet und eigene Ausbildungsinitiativen gestartet. Die Liste der Kooperationspartner reicht vom Arbeitgeberservice und dem Jobcenter über das Bleiberechtsnetzwerk, das IQ-Netzwerk und Sprachkursanbieter über den Bremer Rat für Integration und die AG Flüchtlinge bis hin zum Runden Tisch Anerkennung und damit weit über den engeren Kreis der Projektpartner hinaus. Dieses Netz zu pflegen kostet Zeit, auch wenn nicht jeder ständig mit allen Kontaktpersonen in Verbindung ist. Die ist aber gut investiert, weil immer wieder Synergieeffekte entstehen. So kümmern sich etwa die in den ESF/BAMF-Sprachkursen tätigen Lehrkräfte auch um Praktika für Flüchtlinge und vermitteln auf diesem Wege unter Umständen einen Arbeitsplatz. Zudem können im  direkten Kontakt zwischen Lehr- und Vermittlungsfachkraft an einem Nachmittag viele Fälle von Flüchtlingen besprochen werden, die die Vermittlerin sonst einzeln hätte einladen müssen, um die als nächstes anstehenden Schritte  zu besprechen. So werden Parallelstrukturen durch Netzwerkarbeit aufgelöst oder sie entstehen erst gar nicht. Beispielhaft dafür ist auch ein Gasthörerprojekt für Flüchtlinge an der Universität: Dort werden schon Zeugnisse gesichtet, deutsche und andere Sprachkenntnisse sowie weitere Hochschulzugangsvoraussetzungen überprüft. Für die Flüchtlinge bedeutet das eine Orientierungshilfe, die die Arbeitsagentur in dieser Weise nicht geben könnte.

"Indem ich die Netzwerkarbeit mache, werde ich auch entlastet. Da muss ich mich um viele Dinge gar nicht selber kümmern."

 

Eine gute Vernetzung ist auch bei der Suche nach längerfristigen Perspektiven für Flüchtlinge hilfreich, wenn keine rechtlichen Ansprüche mehr vorliegen. So ermöglichte es die im Netzwerk aktive Leiterin des Bremer IQ-Standortes, Sonya Dase, dass Restmittel aus diesem Förderprogramm unter anderem zugunsten eines Deutschkurses für eine Gruppe von Eritreern eingesetzt wurden, die keinen formalen  Anspruch auf eine solche Förderung geltend machen konnten. Und nicht zuletzt kann die Vernetzung helfen, die Folgen eines Rechtskreiswechsels abzufedern, der durch den Aufenthaltsstatus bedingt ist: Mit der Anerkennung im Asylverfahren wechseln die Modellprojektteilnehmer in die Zuständigkeit des SGB II. Asylsuchende, die in Bremen als Flüchtlinge anerkannt wurden, gingen damit in die Zuständigkeit des Bremer Jobcenters über. Dies bedeutet im Regelfall das Ende des Kontaktes mit den zuvor zuständigen Behörden und Betreuungspersonen, so dass alles Wissen und sowohl fachliche wie persönliche Unterstützung, die zuvor aufgebaut wurden, mit einem Mal beendet sind. Angela Touré berichtet von zusätzlichen Einzelfallarrangements, die deshalb in Bremen getroffen wurden, um eine Kontinuität der Arbeit zu sichern: "75 Teilnehmer (fast alles Syrer) haben inzwischen die Anerkennung als Flüchtling bekommen und sind ins Jobcenter gewechselt. Bremen ist der einzige Standort, an dem diese Jobcenter-Kunden alle im Projekt verbleiben und hier weiter betreut werden. Bremen hat den Vorteil, dass es nur ein Jobcenter gibt, mit dem wir Absprachen dazu treffen müssen. Wir haben ganz früh geklärt, dass ich die Teilnehmer in einem bestimmten formalisierten Verfahren übergebe, dass ich die Jobcenter-Vermittler informiere, was ich bisher gemacht habe und welchen Zweck das Projekt hat, dass ich also offiziell Nebenbetreuerin bin. Wir arbeiten mit derselben EDV-Anwendung haben damit beide Zugriff auf den Datensatz. Ich kann also immer sehen, was das Jobcenter mit den Kunden macht und die können sehen, was ich mit denen mache. Viele Schritte werden gemeinsam abgesprochen und die Zusammenarbeit ist sehr gut."

Folgerungen

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Begleitforschung deckt sich mit den Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Modellprojekt: Um Flüchtlinge möglichst frühzeitig in den Arbeitsmarkt integrieren zu können, ist eine Erweiterung des Sprachkursangebotes unverzichtbar. Dies wird durch die Erfahrungen in Bremen erneut verdeutlicht. Durch die Vermittlung von Basiskenntnissen der deutschen Sprache an alle Flüchtlinge und zeitnah zur Einreise können die Belastungen erzwungener Untätigkeit reduziert und notwendige Grundlagen für den Zugang  in ESF-BAMF-Kurse geschaffen werden. Notwendig ist auch eine stärkere Berücksichtigung der individuell vorhandenen Lernvoraussetzungen, um einen kontinuierlich voranschreitenden Lernprozess zu gewährleisten.

Um Flüchtlinge auf berufsbezogene sprachlich-kommunikative Anforderungen  vorzubereiten zu können, bedarf es qualifizierter Lehrerinnen und Lehrer. Die Vermittlung von Bildungssprache, die im fachlichen Kontext zur Anwendung kommt, bedeutet eine besondere Anforderung an das Lehrpersonal. Hier ist eine angemessene Qualifizierung ebenso gefordert wie eine leistungsgerechte Honorierung sowie eine vertragliche Absicherung der Arbeit, die die Lehrkräfte nicht in prekäre Arbeitsverhältnisse drängt.

Das Beispiel Bremen zeigt anschaulich, wie wichtig es ist, den vor Ort tätigen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern breite Ermessenspielräume einzuräumen.

 

Das Beispiel Bremen zeigt anschaulich, wie wichtig es ist, den vor Ort tätigen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern breite Ermessenspielräume einzuräumen. Freiheit in der Ausgestaltung der Förder- und Vermittlungstätigkeit ermöglicht es ihnen, auf standardisierte Reaktionen zu verzichten und bei Schwierigkeiten nicht gleich behördliche Sanktionen einzusetzen, sondern nach Gründen zu fragen und Ansatzpunkte für kreative Lösungen zu suchen.

Damit Handlungsspielräume und vorhandene Förderinstrumente bestmöglich genutzt werden können, müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt oder qualifiziert werden, die bereit und in der Lage sind, aufsuchend zu arbeiten, in eine verlässliche Beziehung mit den Flüchtlingen zu treten und Dienstleistungen für sie zu erbringen. So können individuelle Potenziale erkannt und Flüchtlinge mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten bestmöglich gefördert werden.

So wichtig wie der persönliche Kontakt zwischen Projektmitarbeitern und Flüchtlingen ist eine verlässliche Vernetzung unter den beteiligten Behörden und Akteuren. Auch der Evaluationsbericht hebt die vertrauensbildende Wirkung einer Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und Behörden hervor, die jenseits des speziellen Projektes "langfristig strukturelle Verbesserungen" schafft. Und er weist darauf hin, dass personelle Stabilität erforderlich ist, damit sich wechselseitiges Vertrauen und Verständnis für die Arbeit der jeweils anderen entwickeln können.

Wichtig ist nicht zuletzt die Vermeidung von Bruchstellen beim Rechtskreiswechsel: Auch jenseits des Modellprojekts sollte durch einen formalen Prozess der Überbrückung sichergestellt werden, dass nach positiver Entscheidung über einen Asylantrag und den Übertritt in das SGB II die vorangegangenen Integrations- und Qualifizierungsanstrengungen nicht verloren gehen, so dass Beziehungen und Kontakte zu Behörden und Helferstrukturen nicht unterbrochen werden, sondern weiter bestehen.

Dankeschön!

Wir danken unseren Gesprächspartnerinnen und  -partnern herzlich für ihre Bereitschaft, über ihre Erfahrungen bei der Umsetzung des Projekts im Modellstandort Bremen zu berichten:

Udo Casper, Koordinator des Bleiberechtsnetzwerk Bremen, BIN
Dr. Sonya Dase, Koordinatorin des IQ Landesnetzwerks Bremen
Angela Touré, Vermittlungsfachkraft der Agentur für Arbeit Bremen
Anja Wohlers, PBW/Koordinatorin des ESF-BAMF-Programms in Bremen

Weitere Informationen

  • IAB: Ergebnisse der qualitativen Begleitforschung von Early Intervention
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  • IAB: Abschlussbericht Modellprojekt Early Intervention
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