18.06.2019

Anerkennung verstehen, Übergänge möglich machen

Zur Bedeutung von Anerkennungsbeziehungen im Übergangsraum

von Ulrich Weiß

Selbst die engagiertesten Beraterinnen und Berater erleben oft, dass sie Jugendliche gar nicht erreichen können, wenn Entscheidungen über deren zukünftigen Berufsweg gefällt werden sollen. Wer dann annimmt, die jungen Leute seien unwillig oder faul, landet in einer Sackgasse. Der Grund liegt in den Anerkennungsbeziehungen der Jugendlichen, die in ihrer Komplexität häufig widersprüchliche Erwartungen erzeugen, und in deren Spannungsfeld die Jugendlichen handlungsunfähig werden. Ulrich Weiß ist Diplom-Pädagoge und hat sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit mit der Situation Jugendlicher im Berufsgrundschuljahr befasst. In seinem Gastbeitrag erläutert er, wie der Weg zu einer erfolgreichen Beratung aussehen kann.

Anerkennungsbeziehungen sind komplex und erzeugen häufig widersprüchliche Erwartungen, mit denen Jugendliche umgehen müssen. Eine Hauptaufgabe der Begleitung Jugendlicher im Übergangsraum besteht daher darin, diese zum Nachdenken über ihre Anerkennungsbeziehungen anzuregen.

Verwirrung im Übergangsraum

"Weiter Schule" - das lässt selbst Profis ratlos zurück. Bild: contrastwerkstatt | Fotolia

Die Pädagogik im Übergangsraum leidet derzeit unter einer weit verbreiteten Verwirrung: Profis, die in diesem Bereich aktiv sind, treffen auf Jugendliche, die zum einen angeben, gerne das Abitur erreichen zu wollen, aber keine Anstrengungen zeigen, ihre schulischen Noten zu verbessern, sondern vielmehr der Schule ziemlich überdrüssig sind. Die zum anderen aber wissen, dass sie im Rahmen einer Ausbildung ebenfalls eine Hochschulzulassung erwerben können und zahlreiche Lehrstellen unbesetzt sind, und die trotzdem, wenn man sie fragt, was sie nach dem laufenden Schuljahr machen möchten, antworten: "Weiter Schule!". Dieser scheinbare Widerspruch ist Ausdruck einer inneren Spannung der Jugendlichen im Übergangsraum. Der folgende Beitrag soll helfen, diese Spannung besser zu verstehen.

Der Widerspruch zwischen dem Ziel, Jugendliche in Ausbildung zu integrieren, und der Zurückhaltung Jugendlicher, in Ausbildung zu gehen, ist keineswegs neu. Er hat seinen Ursprung in der Überantwortung der so genannten Ungelerntenbeschulung an die berufsbildenden Schulen mit der Einführung der Berufsschulpflicht 1938. Hintergrund für diesen Schritt war der Versuch, berufsschulpflichtige Jugendliche durch die Integration in Arbeit gleichzeitig auch in die Gesellschaft und ihre Werte – 1938 im Geiste des Nationalsozialismus – zu integrieren. Das Gesetz wurde nach 1945 in das Grundgesetz der BRD übernommen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die wissenschaftlichen Hinweise verdichtet, dass es viele Jugendliche in Angeboten des Übergangssystems – also schulischen Angeboten für schulpflichtige Jugendliche ohne Zulassung zur gymnasialen Oberstufe und ohne Ausbildungsvertrag – gar nicht zum Beruf hinzieht. Gegenüber diesen Jugendlichen ist,  – wie Hans-Joachim Rohrs und Karlwilhelm Stratmann  bereits in den 1970er Jahren konstatieren, – die Berufsschule, die sich traditionell über die "Integration im Medium des Berufs" definiert, "didaktisch hilflos". Allerdings unterliegen die Motivlagen Jugendlicher im Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit historischen Konstellationen, die sich in den vergangenen 40 Jahren deutlich verändert haben.

Historische Entwicklung
Vor 40 Jahren befanden sich noch überwiegend deutschstämmige Arbeiterkinder in Angeboten des Übergangssystems, unter denen eine milieuspezifische Distanz zur höheren Bildung verbreitet war. Diese Jugendlichen zog es häufig in Richtung schneller Unabhängigkeit vom Elternhaus durch ungelernte Helfertätigkeiten. Folgerichtig haben diese Jugendlichen die Berufsschulpflicht tendenziell als Schikane erlebt.  Heute ist die Situation im Übergangssystem eher durch Jugendliche in Postmigrationsszenarien geprägt. Die Eltern dieser Jugendlichen schreiben der höheren Bildung aus verschiedenen Gründen große Bedeutung zu, können ihren Kindern aber wenig Unterstützung beim Umsetzen der Bildungsansprüche anbieten. Durch die eigene Fremdheit gegenüber den Bildungsinstitutionen wirken diese Eltern auch bisweilen distanziert und überlassen die Führung ihrer Kinder im Schulsystem lieber den dortigen pädagogischen Profis. Außerdem sind diese Eltern häufig aus beruflichen Gründen zeitlich weniger flexibel als Akademikereltern und auch deswegen in der Schule weniger sichtbar.

Anerkennung und Übergang

Um Jugendliche im Übergangsraum zu verstehen, ist es zunächst notwendig, von der Idee der Einmündung in den Beruf etwas Abstand zu nehmen und stattdessen zu schauen, wonach die Jugendlichen im Übergangsraum auf der Suche sind, wenn nicht nach Integration in Ausbildung und Beruf. Ja, sie sprechen von Ausbildung, sie nehmen an Praktika teil, sie wünschen sich das Abitur und ein Studium. Sie wissen, dass irgendwann die Arbeitswelt auf sie wartet und darauf möchten sie gut vorbereitet sein. Im Übergangsraum aber, vor allem in ihrer Zeit an den öffentlichen (Bildungs-)Institutionen, sind sie in erster Linie damit beschäftigt, sich in diversen Anerkennungsbeziehungen zu erproben und zu positionieren. Für die Jugendlichen sind - wie auch für Erwachsene - Anerkennungsbeziehungen notwendig, um zu ermitteln, in welchen sozialen Räumen ihr Selbst, ihre Idee von Identität, den größtmöglichen Entfaltungsraum genießt. Das Handeln Jugendlicher im Übergangsraum ist entsprechend nur zu entschlüsseln, wenn wir die Bedeutung der Anerkennungsbeziehungen Jugendlicher begreifen und verstehen, wie und in welcher Weise unterschiedliche Anerkennungsbeziehungen miteinander verwoben sind.

Unter Anerkennung wird landläufig verstanden, dass Menschen positive Rückmeldungen zu einer erbrachten Leistung  erfahren.

 

Unter Anerkennung wird landläufig verstanden, dass Menschen positive Rückmeldungen zu einer erbrachten Leistung erfahren. Das kann ein Arbeitslohn sein, eine gute Note in einer Klassenarbeit, der Jubel nach einem Tor im Fußball, aber auch ein Lob für eine neue Hose. Anerkennung finden Jugendliche also nicht ausschließlich in der zügigen und zielgerichteten Anpassung an die Welt der Erwachsenen, sondern in zahlreichen sozialen Anerkennungsbeziehungen. Und da Jugendliche – stärker noch als die meisten Erwachsenen – für ihre Identitätsentwicklung positive Bestätigung durch die Außenwelt benötigen, suchen sie soziale Räume, in denen sie diese positiven Rückmeldungen erhalten können. Das bedeutet gleichzeitig, dass sich verschiedene Anerkennungsbeziehungen bisweilen gegenseitig behindern. Zum Beispiel, wenn die Anerkennung als Rebell durch die Mitschüler nur zum Preis der Auflehnung gegen die schulischen Anpassungserwartungen und in der Folge schlechterer Noten zu haben ist. Die Identitätsentwicklung in Anerkennungsbeziehungen unterliegt also einer Spannung, die sich grob zwischen den Polen der Anerkennung durch Leistung und der Anerkennbarkeit durch signifikante Andere unterscheiden lässt. Diese Spannung soll hier näher erklärt werden.

Zwei Pole der Anerkennung

Anerkennung bahnt sich unterschiedliche Wege. Bild: milkchocolate | Adobe Stock

Der Philosoph Krassimir Stojanov  beschreibt Anerkennung als "zentrale Signatur der Moderne", weil über die Anerkennung von Leistung der Abschied vom vormodernen Begriff der Ehre erfolgt ist. Mit dem Fortschreiten der Moderne hat das Prüfungszeugnis nach und nach den Geburtsschein als zentrale Quelle der Anerkennung abgelöst.

In modernen Anerkennungsbeziehungen wird man nicht als jemand von Rang und Status geboren, sondern man muss seinen Status erarbeiten und durch Leistung begründen – wenn auch unter nach wie vor sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen. Gleichzeitig gibt es nicht nur einen Weg, zu gesellschaftlichem Status und zu Anerkennung zu gelangen. Das Kunststück des modernen Menschen liegt vielmehr darin, durch Reflexionsprozesse individuell gültige Anerkennungsquellen zu erkennen und zu erschließen. So zeigt sich Anerkennung nicht nur in Karrieren im Bildungs- und Beschäftigungssystem, zum Beispiel als Richterin oder Richter, sondern Anerkennung ist auch als Straßenmusikerin oder Straßenmusiker zu erhalten, wenn der einzelne Mensch zu der Einschätzung gelangt, dass die Rückmeldungen auf diese Tätigkeit bedeutsame Anerkennungsquellen darstellen.

Anerkennung unterliegt einem konstanten sozialen Wandel durch Anerkennungskämpfe. Fand beispielsweise eine Karriere als Drag Queen noch vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland nur in wenigen Nischen statt, die als verrucht galten und teilweise kriminalisiert wurden, so ist dies heute ein Betätigungsfeld, das in Mainstream-Medien und in vielen sozialen Milieus akzeptiert wird. Es gibt einen sehr umfangreichen Anerkennungsdiskurs in unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und wissenschaftlichen Traditionen, der in diesem Beitrag jedoch nicht angemessen dargestellt werden kann. Die folgende, relativ grobe Unterscheidung, beschränkt sich daher auf zwei Dimensionen von Anerkennung, anhand derer sich die Spannung im Übergangsraum gut beschreiben lässt.

Der erste Pol

Der erste Pol der Anerkennung ist mit Institutionen verbunden und lässt sich gut über das Leistungsprinzip verstehen. Jugendliche erhalten Anerkennung, weil sie in irgendeiner Form Leistungskriterien entsprochen oder Erwartungen übertroffen haben. Diese Anerkennung, in Form von Lob, guten Noten, einem Ausbildungszertifikat oder einem guten Praktikumszeugnis, weist die gelungene Anpassung Jugendlicher an die Standards der Erwachsenenwelt aus. Und weil Jugendliche in aller Regel ein Teil dieser Erwachsenenwelt sein oder werden möchten, stellt diese Form der Anerkennung einen Anreiz dar, sich auch weiterhin den Standards der Erwachsenenwelt anzupassen. Es handelt sich also um eine Anerkennung von außen, in der Leistungen in irgendeiner Form verallgemeinerbar sind (zum Beispiel als Noten). Anerkennungsformen mit einem sozialen Tauschwert wie Noten und Zertifikate bedürfen entsprechend immer einer Anerkennungsordnung, in der festgelegt ist, unter welchen Bedingungen und nach welchen Kriterien Leistung anerkannt wird. Gleichzeitig schwingt jeder Anerkennungsordnung ein implizites Wissen über Anerkennungsbedingungen mit, die landläufig zum Beispiel als "heimliche Lehrpläne" bezeichnet werden.

Der zweite Pol

Der zweite Pol der Anerkennung beschreibt den subjektiv wahrgenommenen Raum, in dem die Anerkennung einer Leistung überhaupt individuell wertvoll ist. Die Sozialphilosophin Judith Butler hat für dieses Problem den Begriff der Anerkennbarkeit eingeführt.

Der Raum der Anerkennbarkeit entsteht im Verlauf der Subjektivierung, in der Kommunikation mit und anhand der Vorbilder signifikanter Anderer, vor allem den Eltern. Signifikante Andere geben den Rahmen dessen vor, was ein Mensch als anerkennbar in sein Selbst- und Weltbild integrieren kann und was nicht. Zum Beispiel kommt eine Ausbildung als Friseur nur dann in Frage, wenn sie im Rahmen dessen liegt, was die signifikanten Anderen, zum Beispiel anhand von Geschlechterrollenerwartungen oder Statuserwartungen als anerkennbar ausgegeben haben. Junge Frauen lehnen beispielsweise Ausbildungen in typischen Männerberufen dann ab, wenn sie von Vätern, Müttern, Freunden oder der weiteren Verwandtschaft die Einschätzung erfahren, dass eine Ausbildung in diesem Beruf ihre Anerkennbarkeit als Frau beeinträchtigen würde. Selbst wenn ein Zugang zum Anerkennungsraum "erster Arbeitsmarkt" besteht und eine Tätigkeit individuell als interessant erachtet wird, wird dieser Raum nur dann betreten, wenn die Anerkennbarkeit in Geschlechterrollen darunter nicht leidet.

Selbst wenn ein Zugang zum Anerkennungsraum "erster Arbeitsmarkt" besteht und eine Tätigkeit individuell als interessant erachtet wird, wird dieser Raum nur dann betreten, wenn die Anerkennbarkeit in Geschlechterrollen darunter nicht leidet.

 

Kulturelle Aspekte

Und natürlich ist Anerkennbarkeit in kulturelle Codes eingeschrieben und offenbart sich auch sprachlich. Im deutschen Sprachgebrauch gelten alle im BBiG als "anerkannte Ausbildungsberufe" beschriebenen Tätigkeiten als Beruf, einschließlich aller Rechte und Pflichten. Bereits 1985 hat die Migrationsforscherin Ursula Neumann auf die unterschiedliche Bedeutung des Wortes "Beruf" im türkischen und im deutschen Sprachgebrauch hingewiesen.

"Beruf" türkisch - deutsch

Im türkischen Sprachgebrauch gelten nur solche Erwerbstätigkeiten als "meslek", als vollwertige Berufe, denen eine höhere Schulbildung vorausgeht, also Bürotätigkeiten, Verwaltungstätigkeiten et cetera. Tätigkeiten im Handwerk folgen in der Türkei nach wie vor einer ständischen Reproduktionslogik und stehen für wenig anerkennungsintensive Tätigkeiten. Wenn Eltern türkischer Muttersprache  also mit ihren Kindern über Berufe sprechen, dann wird üblicherweise das Wort meslek verwendet, was für die Kinder – ausdrücklich oder implizit – bedeutet, dass sie sich um höhere Schulbildung bemühen müssen. Eine Ausbildung als Schreinerin oder Schreiner entspricht dann nicht dem anerkennbaren Bild von "meslek".

"Wenn du irgendwas machst, was deinen Eltern nicht gefällt, dann hast du automatisch keine Lust mehr drauf. Egal, ob du das machen willst oder nicht." Cem, 17 Jahre

 

Protokoll einer Gruppendiskussion unter Gleichaltrigen

W1: Wollt ihr nicht Maler oder Lackierer oder sowas machen?
M2: nee
W1: Ich mag sowas eigentlich voll
W2: Ich auch hab ich mir auch letztens gedacht(.) ich denk mir das immer ... (unverständlich)
M2: Deine eigene Wohnung kannst du gerne schon mal machen(.) aber ( )
W2: mein Zimmer hab ich gemacht
W1: Nein aber ich mag das (.) ich auch (.) ich hab auch mein Zimmer gemacht
W2: Ich hab auch das Aleviten-Schwert an meine Wand selbst gemacht
Gesprächsleiter: Sagten Sie gerade als Mädchen...
W1: Ja (.) man sagt ja eher Maler und Lackierer ist eher so für Jungs [...]
M2: Warum (.) warum gehst du nicht in diesen Beruf (.) warum guckst du nicht (.) wenn du meinst, das macht so Spaß und du kannst das?
Gesprächsleiter: Wer könnte denn sagen "nää...das ist aber kein Beruf für ein Mädchen"?
W1: Ja (.) mein Vater sagt das

Situation in der Schule

Auch für die Schule ist die Spannung zwischen Anerkennung und Anerkennbarkeit weitreichend. Schülerinnen und Schüler können nur dann Anerkennung durch die Schule erfahren, wenn sie ihrerseits die Schule als Institution mit ihren Regeln und Erfolgsbedingungen anerkennen. Das wiederum können Schüler nur dann, wenn sie dem schulischen Erfolg eine Bedeutung für ihre Identität zuschreiben. Diese individuelle Bedeutung von Schule für die Identitätsentwicklung entsteht zwischen dem Erleben von Anerkennung und subjektiver Anerkennbarkeit:

  • durch kleine Erfolge in der Schule, anhand derer Kinder Rückmeldungen über ihre Leistungsfähigkeit erhalten,
  • durch Vorbilder, die positiv über die Schule sprechen und den Lerninhalten der Schule eine Bedeutung zuschreiben,
  • durch positive Beziehungen innerhalb der Schule, eine gute Beziehung zwischen Schule und den „signifikanten Anderen“, vor allem den Eltern,
  • durch die Position der einzelnen Schule im gesellschaftlichen Anerkennungsgefüge.

Insbesondere der letzte Punkt wird hierbei häufig unterschätzt. Eine hochangesehene Schule gibt einen Teil ihrer Anerkennung immer an die Schülerinnen und Schüler ab, die sie besuchen. Das wiederum macht es Schülerinnen und Schülern leichter, ihrerseits die Schule und ihre Regeln anzuerkennen. Schulen mit geringem Ansehen, beispielsweise Hauptschulen, die mitunter als Restschulen diffamiert werden, machen es Schülerinnen und Schülern deutlich schwerer, die Regeln ihrer Schule anzuerkennen, weil der schlechte Leumund der Schule teilweise auch auf sie übergeht. Hier stört die Zugehörigkeit zur Bildungsinstitution dann eher ein positives Selbsterleben und die Schule spielt eine mindestens ambivalente Rolle in der individuellen Identitätsarbeit.

Klick zum VergrößernGezeichneter Balanceakt. Bild: Ulrich Weiß

Balance von Leistungserwartungen und Identität

Die Leistung des Subjekts im Übergangsraum besteht darin, dass Jugendliche die Anerkennungsmöglichkeiten der Gesellschaft – Schule, Ausbildung, Studium, Ehrenamt, Sport, Musik, kulturelle Teilhabe insgesamt – und die zu einem Teil des eigenen Selbst gewordenen Identitätsansprüche in eine Balance bringen müssen. Hierzu gehört auch, dass sie sich selbst als jemand anerkennen müssen, der in einem sozialen Raum Anerkennungsbeziehungen aktiv mitgestaltet. Wenn Kinder und Jugendliche pädagogische Profis herausfordern, steckt dahinter nicht selten ein fehlendes Selbst-Bewusstsein der Kinder und Jugendlichen, für die wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen mitverantwortlich zu sein. Jugendliche lernen erst im Verlauf der Adoleszenz, dass sie Gestalterinnen und Gestalter ihrer Anerkennungsbeziehungen sind. Die Schule ist deswegen ein von den Jugendlichen so geschätzter Raum, weil die Aushandlung von Anerkennungsbeziehungen und Anerkennungsbedingungen hier zum Alltag gehört. Gerade weil Schule so viel verzeiht, ist sie der perfekte Ort für das Erproben von Identitätsentwürfen in Anerkennungsbeziehungen.

Das Erleben von Autonomie in Anerkennungsbeziehungen beginnt aber nicht in der Schule, sondern im Elternhaus. Nur dann, wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie ihren Eltern gegenüber eigene Bedürfnisse geltend machen können, die elterliche Liebe aber trotzdem erhalten bleibt, lernen sie,  sich in sozialen Situationen als Menschen mit legitimen eigenen Bedürfnissen zu behaupten. Müssen Kinder aber befürchten, dass ihre Eltern sie aufgrund erbrachter Leistung mehr oder weniger lieben, dann fällt es ihnen deutlich schwerer, eigene Lebensentwürfe auf der Basis eigener Bedürfnisse zu entwickeln.

Eine Frage steht im (öffentlichen) Raum. Bild: Ulrich Weiß

Die Balance von Anerkennungsbeziehungen ist also eine der zentralen Reflexionsleistungen in der individuellen Gestaltung von Biografie im Allgemeinen und Erwerbsbiografie im Besonderen. Sie begleitet uns als Aufgabe ein Leben lang. Entsprechend unserer Erfahrungen (ein positiver Zuspruch nach einem Krippenspiel), betreten wir weitere Anerkennungsräume (die Theater-AG in der Schule) und entwickeln entlang dieser Erfahrungen, unter Einbeziehung von Vorbildern, Informationen und Erzählungen signifikanter Anderer, ein Modell biografischer Möglichkeiten, Chancen und Restriktionen (womöglich eine Schauspielausbildung). Wir betreten üblicherweise keinen Anerkennungsraum, von dem wir vorher nicht in irgendeiner Form abschätzen können, in welcher Form wir als Subjekt innerhalb dieses Raumes anerkannt sein werden.

Wir betreten üblicherweise keinen Anerkennungsraum, von dem wir vorher nicht in irgendeiner Form abschätzen können, in welcher Form wir als Subjekt innerhalb dieses Raumes anerkannt sein werden.

 

Theorie und Praxis
Angenommen, ein Rucksackreisender kommt im Amazonasgebiet in ein Dorf mit einer ihm völlig unbekannten Kultur. Er betritt auch diesen Raum mit einer Ahnung davon, wie er in ihm als Fremder anerkannt sein wird, und verhält sich entsprechend. Bei der kleinsten Gefahr der Vernichtung der eigenen Person wird er diesen sozialen Raum meiden. Das erklärt, warum die Ausbildung für einige Jugendliche ein so gefährlicher Anerkennungsraum ist und sie lieber in der Schule verweilen. Und das, obwohl Beratende sie als schulmüde erleben. Der Ausbildungsbetrieb mit seinen Regeln, Normen und Leistungsansprüchen ist den Jugendlichen ein fremder, bedrohlicher Ort, von dem sie nicht wissen, ob ihre Identitätsansprüche dort zur Geltung kommen können. Sie befürchten – überspitzt formuliert – die Vernichtung ihrer Subjektivität.

Bei dem 17-jährigen Cem klingt das so: "Zum Beispiel, ich hab ältere Freunde. Die sind schon 21, 23 so. Und wenn ich die dann frage, die sagen dann: 'Ich war genauso wie du. Ich wollt nicht mehr in die Schule. Ich wollt arbeiten, aber glaub mir, du wirst dieses, die Schule halt vermissen.' Frag ich: 'Warum? Du verdienst dein Geld', sagt er:  'Steh mal morgens auf. Geh mal acht, neun Stunden arbeiten, plus Überstunden. Und dann der ganze Stress. Dann kommst du nach Hause, kannst nicht mehr raus, weil du kaputt bist und direkt schläfst und das wird dann immer so weitergehen.'"

Schule hingegen funktioniert als Anerkennungsraum nicht nur über Noten, sondern auch über Anerkennung durch Peers, dadurch, dass man sich ein jugendliches Selbstverständnis, einen jugendlichen Stil erarbeitet hat, der nur in der Anerkennung durch Gleichaltrige funktioniert. Und dadurch, dass man in der Schule eben immer auch Verständnis und Unterstützung durch pädagogische Profis erhält und insgesamt Zeit hat, am individuellen Identitätsentwurf – mit welcher Zielgerichtetheit auch immer – zu arbeiten. Die Schulzeit ist eine Zeit der Freistellung von Nützlichkeitserwartungen, in der Jugendliche sich erproben können und sollen. Die Schule ist ein bekannter Anerkennungsraum, während der Betrieb in dieser Hinsicht gänzlich unbekannt ist und von dem Jugendliche sicher wissen, dass Nützlichkeitserwartungen an sie gerichtet werden.

Häufig ist die Ablehnung betrieblicher Ausbildungen aber auch durch Erfahrungen Jugendlicher in Betrieben selbst begründet. Viele Jugendliche berichten von Praktika, in denen niemand mit ihnen gesprochen hat, sie nicht ernst genommen wurden, sie stumpfe und monotone Arbeiten verrichten mussten und sich entsprechend als billige Hilfskraft ausgenutzt gefühlt haben. Sie sind zwar nicht erfolgreich in der Schule und sehen keine realistische Perspektive in der höheren Bildung. Aber die Erfahrungen, die sie gemacht haben und die Geschichten, die sie aus der Arbeitswelt gehört haben, sind so abschreckend, dass sie so lange wie möglich in der Schule bleiben.

Von der Schwierigkeit, sich festzulegen

Nicht selten das Ziel der Berufswahl: Die Schnittmenge unterschiedlicher Meinungen

Die Herausforderung der Reflexivität im Übergangsraum liegt in der Balance anerkannter beruflicher Handlungsoptionen und der Anerkennbarkeit durch signifikante Andere. Nur wenn wir eine berufliche Möglichkeit für realistisch halten, nur wenn wir das Gefühl haben, dass die Menschen, die uns wichtig sind, diesen Berufsweg mindestens tolerieren werden und wenn wir das Gefühl haben, uns selbst in der beruflichen Tätigkeit nicht fremd zu werden, wird eine emanzipierte Entscheidung für einen Beruf wahrscheinlich. Bis zum Erkennen dieser Schnittmenge nutzen Menschen allerhand Möglichkeiten, um Festlegungen auf einen Beruf hinauszuzögern. Dies gilt nicht nur für Jugendliche im schulischen Übergangssystem, sondern auch für Studierende, die Aufbaustudien oder Postgraduiertenstudien aufnehmen, die nach dem Studium "erstmal jobben" oder auf Weltreise gehen, um dem Druck der Leistungserwartungen eine Weile zu entkommen. Jugendlichen, die nicht die Möglichkeit eines Studiums haben, bleibt als eine der wenigen Möglichkeiten, in einem institutionellen Rahmen den Übergang in Ausbildung aufzuschieben, die Teilnahme an Angeboten des Übergangssystems.

Konsequenzen für Beratung und Begleitung im Übergangsraum

Erwachsene neigen in der Begleitung des Übergangs zu einer Beratung nach dem Motto "Jetzt fang doch erst mal was an, du kannst dich später ja immer noch verändern." Damit werden aber die Bedingungen biografischer Veränderung mit ihrem Ergebnis verwechselt. Dieser Beratungsschritt basiert auf der häufig selbst gemachten positiven  Erfahrung von Veränderung, zum Beispiel umgezogen zu sein oder den Beruf gewechselt zu haben. Erwachsene – und möglicherweise ist dies genau der Kern einer Definition von Erwachsensein – sind in ihrem Identitätserleben weniger als Jugendliche abhängig von unmittelbaren Rückmeldungen ihrer Außenwelt. Erwachsene haben häufig die Erfahrung gemacht oder machen müssen, dass Veränderungen eher zur Erweiterung ihrer Anerkennungsbeziehungen beigetragen haben, als dass sie diese geschwächt hätten.

Die Bedingungen biografischer Veränderung dürfen nicht mit ihrem Ergebnis verwechselt werden.

 

"Einfach mal mit etwas anfangen" können nur diejenigen, die sich ihrer Anerkennungsbeziehungen gewiss sind, und die es sich leisten können, die eine Art zu leben aufzugeben und eine andere aufzubauen: Weil sie es schon einmal geschafft haben. Für viele Jugendliche liegt die dramatische Bedrohung im Übergang aber gerade darin, dass in einer erwarteten Mühle der Erwerbstätigkeit ihre eigene Subjektivität zerrieben wird.

Berater in der Zwickmühle

In der Beratung junger Menschen im Übergangsraum führt die Spannung zwischen Anerkennung und Anerkennbarkeit bisweilen zu Schwierigkeiten: Beratende zeigen Möglichkeiten auf, skizzieren Karrierewege, die auf der Basis einer Ausbildung möglich sind, sie sagen, dass eine Ausbildung nicht das Ende der Bildung und der Persönlichkeitsentwicklung ist, sondern vielfach deren Anfang. Und obwohl die Informationen plausibel und gut begründet sind, hören sie am Ende des Gesprächs die Phrase "weiter Schule". In derartigen Beratungsgesprächen fühlen sie sich dann manchmal, als stünde ein dritter, unsichtbarer Stuhl im Raum, auf dem Vater, Mutter, Onkel oder beste Freundin sitzen, und den Jugendlichen Dinge einflüstern, die aus der Beratungssicht gegen die Interessen der Jugendlichen sprechen, die unterstützt werden sollen. Derartige Situationen wirken sich belastend auf die Beziehung zwischen Jugendlichen und den pädagogischen Profis aus, weil Beratende normalerweise den Anspruch erheben, Individuen zu beraten, die auf der Basis emanzipierter Reflektion individuelle Entscheidungen fällen.

Beratende erheben normalerweise den Anspruch, Individuen zu beraten, die auf der Basis emanzipierter Reflexion individuelle Entscheidungen fällen.

 
"[...] ein dritter, unsichtbarer Stuhl im Raum" - Beratungsgespräche sind oft für beide Seiten schwierig. Bild: Photographee.eu | Adobe Stock

Einerseits wünschen sie sich, dass die Jugendlichen sich aus den manchmal engen Grenzen der familialen  Anerkennbarkeit befreien und für ihre eigenen Interessen eintreten. Andererseits könnte das heißen, die Jugendlichen entgegen ihrer eigenen Anerkennbarkeit zu beraten und ihnen vorzuschlagen, sich den Erwartungen der signifikanten Anderen zu widersetzen. Der Vorschlag, gegen das eigene Selbst zu handeln und das "Ich im Wir" zu verneinen fußt auf der Fehleinschätzung, die Anerkennung in der Ausbildung könne die Einbindung in die subjektive Welt der signifikanten Anderen ersetzen. Gerade im Übergang sind aber Familie und Freunde die wichtigsten Stabilisatoren und Anerkennungsquellen. Dies gilt insbesondere, weil die berufliche Zukunft von den Jugendlichen häufig als ungewiss erlebt wird.

In diesem Moment stehen Beratende vor einem Dilemma: Einerseits können sie Jugendliche nicht ausschließlich hinsichtlich beruflicher Anerkennung beraten. Andererseits haben sie nur bedingt Einblick in die Anerkennungsbeziehungen außerhalb der Beratungssituation. Eine Möglichkeit, Jugendliche bei der Durchquerung des Übergangsraumes zu unterstützen, liegt daher in Reflexionsangeboten, die den Jugendlichen ihre Eingebundenheit in vielfältige Anerkennungsbeziehungen vor Augen führen.

Was ist anerkennungssensible Beratung?

Anerkennungssensible Beratung im Übergangsraum muss in Zusammenarbeit mit den Jugendlichen deren Anerkennungsbeziehungen verstehen, ohne den Jugendlichen gegenüber ihre zentrale Anerkennungsbeziehungen zu entwerten, auch wenn diese der Übernahme einer Ausbildungsstelle im Weg stehen. Dies bedeutet, zu reflektieren,

  • in welchen Zusammenhängen Jugendliche Anerkennung durch Andere erfahren haben, welche Erfolge sie aufgrund ihrer Leistung in der Welt der Erwachsenen erleben konnten, zu welchem Preis diese Anerkennung erlebt wurde und ob der Preis angemessen war.
  • welche Bedeutung Anerkennung, zum Beispiel durch die Schule, in einem Fußballverein, in der Peer Group oder in der Familie für sie hat. Warum fühlt es sich gut an, Anerkennung im Verein zu erleben und wie unterscheidet sich das von der Anerkennung, die in der Schule zu erfahren ist?
  • inwiefern Jugendliche sich überhaupt als Chefin oder Chef ihres eigenen Lebens erfahren. Sind sie mit ihren 16 Jahren dazu bereit, sich in einem Betrieb mit ihren eigenen Bedürfnissen geltend zu machen oder würde der Übergang in Ausbildung bedeuten, dass sie sich duckmäuserisch unterordnen müssen und ihre eigenen Wünsche keine Bedeutung mehr haben?

Diese Reflexionsfragen lassen sich den Jugendlichen natürlich nicht wörtlich stellen, aber sie repräsentieren quasi die Blaupause des Spannungsfeldes, das im Beratungsprozess abgebildet werden muss. In der Praxis gibt es dann zahlreiche Gesprächs- und Moderationsmethoden, anhand derer man sich dem Thema annähern kann. Hier ist natürlich entscheidend, ob es sich um Einzel- oder Gruppensituationen handelt. Es haben sich all jene Methoden bewährt, mit deren Hilfe in irgendeiner Form die Fragen: Wer bin ich? Was mache ich? Was will ich? Was bin ich bereit, dafür zu tun? tangiert werden.

Gute Fragen - ja! Fertige Antworten - nein!

 

Ins Zentrum gerät dann nicht die Beratung, die Wegweisung, die Empfehlung, die Information oder die Hilfe. Entscheidend sind vielmehr gute Fragen, die einen Reflexionsraum öffnen, der dem und der zu Beratenden möglicherweise als Reflexions- und dadurch Gestaltungsraum gar nicht bewusst war. Auf diesem hier grob umrissenen Weg ist die Spannung zwischen Anerkennung und Anerkennbarkeit konstruktiv bearbeitbar und es können den Jugendlichen Räume geöffnet werden, die eigene Biografie im Rahmen ihrer Anerkennungsbeziehungen tatsächlich auch zu gestalten.

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