06.07.2020

Vorzeitige Vertragslösungen von Auszubildenden vermeiden

Was Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrer beitragen können

von Jens Christian Soemers

Diskussionen über vorzeitige Vertragslösungen in der dualen Berufsausbildung haben aktuell aufgrund der Covid-19-bedingten Wirtschaftskrise, aber auch wegen des sich schon länger abzeichnenden Mangels an Fachkräften und der zunehmenden Passungsprobleme am Arbeitsmarkt Hochkonjunktur. Die Gründe für die Lösung von Ausbildungsverträgen sind vielfältig. Häufig werden die Ursachen im betrieblichen Teil der Ausbildung verortet. Aber welche Rolle spielen die berufsbildenden Schulen? Welchen Beitrag können Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrer leisten, um vorzeitigen Vertragslösungen und Ausbildungsabbrüchen zu begegnen?

Bild: Monkey Business Images/Adobe Stock

Derzeit wird rund jeder vierte Ausbildungsvertrag vorzeitig gelöst. Zwei Drittel der Lösungen finden bereits im ersten Ausbildungsjahr statt. Die Tatsache, dass die betroffenen Auszubildenden nach einer Vertragslösung mitunter nur schwer einen neuen Ausbildungsplatz finden und die Betriebe ihre Ausbildungskapazitäten aufgrund der negativen Erfahrungen verringern, lastet verstärkt auf dem Ausbildungssystem in Deutschland. Häufig finden sich erhöhte Vertragslösungsquoten dort, wo Jugendliche mit ungünstigen Startvoraussetzungen in Betriebe/Berufe mit schwierigen Ausbildungsbedingungen gelangen. Die Gründe dafür, dass Berufsausbildungsverträge vor Ablauf der vereinbarten Ausbildungszeit aufgelöst werden, sind vielseitig: Sie reichen von der falschen Berufswahl über gesundheitliche und familiäre Schwierigkeiten bis hin zu Problemen im Ausbildungsbetrieb und in der Berufsschule.

Verschiedene Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zeigen, dass sich Gründe für vorzeitige Vertragslösungen häufig im Bereich von Konflikten zwischen den Vertragsparteien sowie in der Unzufriedenheit, in falschen Vorstellungen und Erwartungen der Vertragsbeteiligten verorten lassen. Die Auszubildenden führen insbesondere Gründe auf Seiten der Betriebe an, während diese vor allem mangelnde Leistung und Motivation der Auszubildenden benennen. Die Rolle der berufsbildenden Schulen wird dabei selten thematisiert oder untersucht. Dabei zeigt sich, dass die Zufriedenheit der Auszubildenden mit dem Lernen in der Berufsschule teilweise sehr viel geringer ist als mit der praktischen Ausbildung im Betrieb, was sich in Überforderungen mit dem Lernstoff, Ängsten vor Prüfungen und schlechten Noten und der nur sehr geringen Lernmotivation und Leistungsbereitschaft in den Präsenzunterrichten und in den aktuell von der Regierung verordneten Distanzunterrichten widerspiegelt. Insbesondere diese Tatsache ist ein gravierender Grund für vorzeitige Lösungen von Berufsausbildungsverträgen.

Vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen als adäquates Mittel zur Verringerung vorzeitiger Vertragslösungen

Blicken wir auf unsere eigene Schulzeit zurück, wird deutlich, dass unsere Zufriedenheit im Lernort Schule sehr stark davon abhing, wie gut wir es mit den verschiedenen Lehrerinnen und Lehrern in den unterschiedlichen Fächern „konnten“. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Lehrende in der Lage sind, die Zufriedenheit und somit das Gefühl der Überforderung, Ängste vor Prüfungen und schlechten Noten und die Lernmotivation und Leistungsbereitschaft ihrer Schülerinnen und Schüler durch die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehungen zu beeinflussen, was viele Forschungen aus den Bereichen der Neurobiologie, Pädagogischen Psychologie und Unterrichtsforschung auch belegen. In vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Beziehungen werden Lehrerinnen und Lehrer zu wichtigen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern, an die sich Lernende bei Unsicherheiten und Zweifeln wenden können und Unterstützung erfahren. Die bewusste Gestaltung vertrauensvoller Lehrer-Schüler-Beziehungen ist somit ein sehr adäquates Mittel zur Verringerung der Anzahl vorzeitiger Vertragslösungen von Auszubildenden.

Die bewusste Gestaltung vertrauensvoller Lehrer-Schüler-Beziehungen ist ein adäquates Mittel zur Verringerung der Anzahl vorzeitiger Vertragslösungen von Auszubildenden.

 

Nachfolgend werden drei Kategorien und sechs Merkmale, die in der Wahrnehmung von Auszubildenden im dualen Berufsausbildungssystem in Deutschland vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen an berufsbildenden Schulen kennzeichnen, dargestellt. Die Merkmale wurden analytisch induktiv durch strukturierende Inhaltsanalysen von 103 narrativen Aufsätzen von Auszubildenden über besonders vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen an berufsbildenden Schulen exploriert und liefern Lehrerinnen und Lehrern zahlreiche Anhaltspunkte zur Verbesserung der Qualität der Beziehungen zu ihren Schülerinnen und Schülern und zur Senkung des Risikos vorzeitiger Lösungen von Berufsausbildungsverträgen.

Die Unterstützung durch Lehrerinnen und Lehrer beim Lernen

Bild: Jens Christian Soemers

Die Unterstützung beim Lernen beschreibt den Enthusiasmus und das Engagement von Lehrerinnen und Lehrern, die Kompetenzen der Lernenden in Präsenz- und Distanzunterrichten zu fördern.
Auf der einen Seite werden Verhaltensweisen der Lehrenden erfasst, die deutlich machen, dass ihnen der Lernzuwachs jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers am Herzen liegt. Die Lehrperson nimmt sich gerne Zeit zur Beantwortung von Fragen bei Lernproblemen der Lernenden und wendet sich ihnen zu, um ihr Lernen voranzutreiben.

Beispiele aus den Aufsätzen der Auszubildenden:

  • Die Lehrperson wiederholt den Stoff individuell für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler.
  • Die Lehrperson geht bei Nachfragen guter Dinge speziell auf jede Schülerin und jeden Schüler ein.
  • Die Lehrperson versucht, es jeder einzelnen Schülerin und jedem einzelnen Schüler zu erklären.

Auf der anderen Seite werden die Bemühungen und das Engagement der Lehrenden, die Präsenz- und Distanzunterrichte so zu gestalten, dass sich alle Schülerinnen und Schüler weiterentwickeln, beschrieben. Die Lehrperson ist sich der Verantwortung für das Lernen bewusst und motiviert die Lernenden durch hohes Engagement und durch ein echtes Interesse an der Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler. Sie betrachtet Unterricht nicht als Selbstzweck, sondern als Chance, die Lernenden zu begeistern.

Beispiele aus den Aufsätzen der Auszubildenden:

  • Die Lehrperson bemüht sich immer darum, dass alle den Stoff verstehen.
  • Die Lehrperson gibt sich Mühe, es so zu erklären, dass es alle verstehen.
  • Der Lehrperson ist es sehr wichtig, dass alle Schülerinnen und Schüler gut mitkommen und dass keine und keiner zurückbleibt.

Die Zugänglichkeit von Lehrenden und Lernenden

Zugänglichkeit meint die Bereitschaft der Lehrenden und Lernenden, sich einander zuzuwenden und die Eindrücke des Gegenübers zu empfangen. Einerseits zeigt sich Zugänglichkeit in der Bereitschaft, mit der sich Schülerinnen und Schüler mit Problemen, Kritik und Fragen in den Präsenz- und Distanzunterrichten an die Lehrerinnen und Lehrer wenden und mit der die Lehrperson Auffälligkeiten bei den Lernenden anspricht.

Beispiele aus den Aufsätzen der Auszubildenden:

  • Man traut sich, mit der Lehrperson zu reden, wenn man Probleme hat.
  • Die Lehrperson spricht die Schülerinnen und Schüler auf ihre Probleme an.
  • Die Lehrperson geht auf alle Schülerinnen und Schüler offen zu.
  • Man kann mit der Lehrperson über Sachen reden, die man loswerden will.

Andererseits beschreibt Zugänglichkeit die Bereitschaft der Lehrenden und der Lernenden, Kritik anzunehmen und auf Vorschläge einzugehen.

Beispiele aus den Aufsätzen der Auszubildenden:

  • Die Schülerinnen und Schüler nehmen den Rat der Lehrerinnen und Lehrer an.
  • Die Lehrperson geht oft auf Ideen und Anregungen ihrer Schülerinnen und Schüler ein.
  • Die Lehrperson nimmt Kritik an und setzt Mögliches um.
  • Die Lehrperson geht auf die Vorschläge der Lernenden ein.

Die persönliche Zuwendung von Lehrenden und Lernenden

Bild: industrieblick/Adobe Stock

Unter persönlicher Zuwendung wird die Intensität, mit der Lehrende und Lernende über private Angelegenheiten kommunizieren, verstanden.

Dieses Merkmal erfasst zum einen sämtliche Formen von Beratungsgesprächen über schulische und außerschulische Probleme, Sorgen und Ängste, die von gegenseitiger Sympathie, Wohlwollen und Zuneigung getragen werden. Im Fokus steht das außerfachliche Interesse an der Person des Lehrenden oder Lernenden, wozu die Betreffenden einzeln, in einem persönlichen Gespräch, Chat oder per Mail und nicht im Klassenverband angesprochen werden.

Beispiele aus den Aufsätzen der Auszubildenden:

  • Wenn eine Lehrperson in einem persönlichen Gespräch gemeinsam mit der Schülerin oder dem Schüler nach Lösungen für Probleme sucht.
  • Wenn man mit der Lehrperson persönlich über Probleme, Fehler oder auch verhauene Klausuren reden kann.
  • Wenn eine Lehrperson mit der Schülerin oder dem Schüler unter vier Augen redet.

Zum anderen bemisst sich die persönliche Zuwendung zueinander auch daran, in welchem Ausmaß sich Lehrende und Lernende auch ohne Worte durch die Körpersprache wie Mimik, Gestik und Berührungen verstehen.

Beispiele aus den Aufsätzen der Auszubildenden:

  • Wenn man am Gesichtsausdruck erkennen kann, ob die Lehrperson auf ihre Schülerinnen und Schüler eingeht.
  • Wenn der Augenkontakt viel darüber aussagt, ob die Beziehung gut oder eher weniger gut ist.
  • Wenn die Lehrperson die Lernenden durch einen freundlichen Schulterklopfer lobt.

Vertrauen als Schlüssel zum Erfolg

Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrer können dazu beitragen, die Zahl der vorzeitigen Lösungen von Ausbildungsverträgen durch die Gestaltung besonders vertrauensvoller Beziehungen zu ihren Schülerinnen und Schülern zu verringern und die berufliche Sozialisation von Beginn an zu stärken.

Dies wird gelingen, wenn die Lehrenden den Lernenden bei individuellen Lernproblemen gerne helfen und sich wirklich darum bemühen, dass alle Schülerinnen und Schüler einen Lernzuwachs erfahren, da die Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer beim Lernen die Lernmotivation und Leistungsbereitschaft der Auszubildenden erhöht und die Gefühle der Überforderung mit dem Lernstoff, Ängsten vor Prüfungen und schlechten Noten verringert. Zusätzlich zeichnen sich besonders gute und vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen dadurch aus, dass Lehrende und Lernende mit ihren Sorgen und Problemen aufgeschlossen aufeinander zugehen, gegenseitige Vorschläge und Anregungen ernst nehmen und viele persönliche Gespräche miteinander führen, was die Voraussetzungen dafür sind, dass sich die Schülerinnen und Schüler vor der Lösung ihres Ausbildungsvertrags zur Krisenberatung überhaupt vertrauensvoll an ihre Lehrerin oder ihren Lehrer wenden, sodass gemeinsam ein Lösungsansatz zur Vermeidung der vorzeitigen Vertragslösung entwickelt werden kann.

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