07.12.2010

Gravierende Mängel, geringer Nutzen

Ein kritischer Blick auf die Eignungsanalyse

von Rüdiger Preißer

Die Eignungsanalyse zu Beginn der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (BvB) verfehlt ihr Ziel. Es gibt eine Reihe von Kritikpunkten: erhebliche konzeptionelle und methodische Mängel, aufwändige, aber eher technokratisch angewandte Verfahren, keine Orientierung an der Person, vor allem aber kaum Auswirkungen auf die Förderung. Die aufgewendeten Ressourcen sollten besser in eine individuelle und passgenaue Förderung der Jugendlichen investiert werden.

In der Berufsvorbereitung wurde seit der Einführung des "Neuen Fachkonzeptes" durch die Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2004 der Kompetenzentwicklung der Jugendlichen ein zentraler Stellenwert zugewiesen. So ist dem Beginn des Qualifizierungsprozesses im Rahmen der BvB eine Erfassung ihrer Kompetenzen vorangestellt: "In der Eignungsanalyse werden die schulischen Kenntnisse und Fertigkeiten sowie die personalen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Teilnehmenden erfasst sowie persönliches Verhalten beobachtet" (Fachkonzept 2009, S. 9). "Dabei sind immer die vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (Kompetenzansatz)" (ebd.). Die Notwendigkeit der Eignungsanalyse wird damit begründet, dass sie "die Grundlage für eine individuelle Qualifizierungs-/Förderplanung" bildet (Fachkonzept 2009, S. 5).

Eine solche Konstruktion ist für den gesamten (Berufs-)Bildungsbereich einmalig: Es gibt keine einzige Bildungsmaßnahme, die konzeptionell auf einer Eignungsdiagnostik der Teilnehmenden aufbaut. Weder Trainer in der Erwachsenenbildung, noch Hochschullehrer, noch Schullehrer, noch Erzieherinnen verwenden eignungsdiagnostische Daten, um mit ihrer jeweiligen Klientel pädagogisch arbeiten zu können. Angesichts dieser Tatsache bedarf es einer sorgfältigen Begründung, wieso ausgerechnet die BvB, der im Gegensatz zu all diesen Bildungsmaßnahmen keinerlei pädagogische Standards zugrunde liegen, eine solche Eignungsdiagnostik benötigen. Und es bedarf ebenso dringend einer Begründung, warum - wiederum im Gegensatz zum gesamten restlichen Bildungssystem - am Ende der BvB keinerlei Lernerfolgskontrolle in Form einer Kompetenzfeststellung erfolgt.

Darüber hinaus wird der Nutzen der Kompetenzfeststellung im Rahmen der Eignungsanalyse durch gravierende Mängel vermindert. Sie beziehen sich auf konzeptionelle und methodische Aspekte sowie auf die Folgerungen, die aus den Kompetenzbefunden für die darauf aufbauende Qualifizierungs- und Förderplanung gezogen werden.

Konzeptionelle Mängel

Den eingesetzten Verfahren liegt ausnahmslos kein theoretisch fundiertes kohärentes Kompetenzmodell zugrunde, das die Dimensionalität, die Niveauabstufungen sowie die Entwicklungspfade der Kompetenzen abbildet, wie dies von der psychologischen Kompetenzdiagnostik gefordert wird. Allenfalls die Niveauabstufungen, das Messniveau und die Reliabilität wurden überprüft. Die Verfahren fußen aber weder systematisch auf einer psychologisch fundierten Persönlichkeits- oder Handlungstheorie noch auf einem pädagogischen Entwicklungsmodell des Lernens bzw. des Erwerbs von Kompetenzen. Vielmehr wird die Kompetenzstruktur der Jugendlichen gewissermaßen als Aufsummierung einzelner Ausprägungen von Teilkompetenzen aufgefasst. Ihre Kompetenz-"Entwicklung" wird folglich in der Verbesserung der Ausprägung einzelner Kompetenzmerkmale gesehen, die durch die BvB bewirkt werden soll.

Darüber hinaus liegen der Kompetenzfeststellung der Jugendlichen nur - mehr oder weniger plausible - normative Anforderungskataloge von Kompetenzmerkmalen zugrunde (z.B. der umstrittene Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife), deren Anforderungsbezug - die "Domänen" - jedoch in der Regel empirisch nicht überprüft wurde. Deshalb erzeugen die eingesetzten Verfahren der Kompetenzerfassung ein verzerrtes Bild über die Kompetenzen der Jugendlichen, da die Kompetenzmerkmale sehr häufig einseitig auf fachliche, soziale und personale Arbeitsanforderungen fokussiert sind. Dagegen werden fast vollständig lebensweltnahe Erfahrungs- und Kompetenzbereiche (Sport, Hobbies, Freizeitgestaltung usw.) der Jugendlichen vernachlässigt.

Methodische Mängel

Neben den genannten konzeptionellen Mängeln gibt es auch eine Reihe von methodischen Mängeln, die den Nutzen der Kompetenzfeststellung im Rahmen der BvB zusätzlich vermindern. Unter anderem sind die Kompetenzmerkmale sowie die zugrunde liegenden Beobachtungsmerkmale (Deskriptoren) in den von den Bildungsträgern eingesetzten Verfahren außerordentlich heterogen. Häufig sind sie unzureichend oder nicht trennscharf definiert, liegen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen und unterscheiden sich in ihrer Detailliertheit. In einer aktuellen explorativen Studie  wurden von acht untersuchten Bildungsträgern über hundert verschiedene Kompetenzmerkmale zur Kompetenzfeststellung verwendet, etwa die Hälfte von ihnen in unterschiedlichen Kombinationen mit jeweils anderen Merkmalen.

Folgerungen aus den Kompetenzbefunden für die Förderplanung

Die Eignungsanalyse zu Beginn der BvB erzeugt mehr Kompetenzbefunde über die Jugendlichen - in der Regel zwischen 25 und 35 Einzelmerkmalen -, als von den Bildungsträgern ausgewertet werden können und es werden mehr und zu differenzierte Befunde erzeugt, als für die Förderempfehlungen benötigt werden. Deshalb knüpft die Qualifizierungs- und Förderplanung nicht systematisch - sondern allenfalls selektiv - an die Befunde der Eignungsanalyse an, sondern erfolgt weitgehend abgekoppelt von ihnen. Aber auch die Qualifizierungs- und Förderplanung ist keineswegs kompetenzorientiert, denn die Förderempfehlungen werden nicht output- bzw. lernergebnisorientiert, sondern inputorientiert (z.B. Training der Merkfähigkeit; Förderunterricht in Mathematik) oder allenfalls prozessorientiert (Steigerung des Durchhaltevermögens; Verbesserung der Selbstwahrnehmung) formuliert und können deshalb gar nicht im Sinne einer Lernzielkontrolle überprüft werden.

Konsequenz

Die Eignungsanalyse verfehlt die Zielsetzung einer individuellen und passgenauen Förderung also gleich in mehrfacher Hinsicht. Die BvB würden ebenso gut (oder schlecht) ohne die Eignungsanalyse und die dabei eingesetzten Verfahren der Kompetenzfeststellung verlaufen.
Der Kompetenzbegriff birgt darüber hinaus ein Potential, das in der Konzeption der BvB bisher noch gar nicht benannt wurde. In Anknüpfung an den Deutschen Bildungsrat, der Kompetenz als "Selbsterzeugung des Subjekts im eigenen Handeln" definierte, sollten die BvB eine Stärkung des Selbstwertgefühls der Jugendlichen, die Förderung ihrer Selbstwahrnehmung, Emotionsregulation und Handlungskontrolle sowie ihrer motivationalen und meta-kognitiven Kompetenzen (Lernen des Lernens, Selbstregulationsfähigkeit) auf der Grundlage ihres Erfahrungswissens zum Ziel haben. Das würde zu ihrer Einmündung in Ausbildung vielleicht mehr beitragen als die Reduzierung ihrer Kompetenzen auf eine atomisierte Messung von Einzelskills.

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