14.12.2011 | Nicola Schindler, Katja Driesel-Lange, Prof. Bärbel Kracke, Prof. Ernst Hany

Kompetenzen für die Berufswahl

Welche Kompetenzen müssen Jugendliche eigentlich entwickeln, um die richtige Berufswahl zu treffen? Dieser Frage sind Forscherinnen und Forscher in einem Projekt der Universität Erfurt nachgegangen und haben dazu ein Modell entwickelt, das Ausgangspunkt für eine Reform der schulischen Berufsorientierung in Thüringen werden soll.

Die Gestaltung schulischer berufsorientierender Angebote findet bislang vor allem auf der Basis bewährter pädagogischer Praxis statt. Leider ist es aber so, dass der individuelle berufswahlbezogene Entwicklungsstand von Jugendlichen bei der Gestaltung dieser Angebote oft nicht berücksichtigt wird. Ein solcher „One-size-fits-all“-Ansatz vernachlässigt die individuell verschiedenen Bedürfnisse der Jugendlichen und führt oftmals zu Unmut und Demotivation auf beiden Seiten. So mag es der eine Jugendliche als besonders nützlich empfinden, sich im Berufsinformationszentrum über konkrete Ausbildungsmöglichkeiten zu informieren, wenn er zwischen zwei oder drei Alternativen schwankt. Für Jugendliche, die bereits genau wissen, was sie beruflich werden wollen, oder Jugendliche, die noch überhaupt keine Idee haben, was sie nach der Schule machen wollen, ist ein solcher Besuch nur dann hilfreich, wenn er adäquat vorbereitet wird und eine an den berufswahlbezogenen Entwicklungsstand des Einzelnen angepasste Zielstellung verfolgt.

Berufsorientierung - ganz nach Bedarf

Mit dem ESF-geförderten Projekt Thüringer Berufsorientierungsmodell (ThüBOM) wird seit 2008 ein Instrument entwickelt, das Thüringer Schulen  unterstützen soll, Berufsorientierungsmaßnahmen theoriegeleitet und passgerecht dem jeweiligen Entwicklungsstand ihrer Schüler(innen) entsprechend anzubieten. Die theoretische Konzeption von Berufswahlkompetenz basiert auf Ansätzen der Berufswahlforschung, insbesondere der entwicklungspsychologischen Perspektive und einem Kompetenzansatz, der psychometrisch in der Tradition der Schulleistungsstudien angelegt ist. Das Thüringer Berufsorientierungsmodell besteht aus drei Teilen (Berufswahlkompetenzmodell, Kompetenzvermittlungsmodell, Implementationsmodell); nachfolgend wird das Berufswahlkompetenzmodell näher vorgestellt.

Das Thüringer Berufswahlkompetenzmodell

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Jugendliche müssen sich während ihrer Schulzeit mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihr Leben als Erwachsene gestalten wollen. Dazu gehört die zukünftige Berufstätigkeit. Der eigene Zukunftsentwurf in Bezug auf einen Beruf wird in einem längerfristigen Prozess auf der Basis der persönlichen Fähigkeiten, Ziele, Wünsche, Werte und Interessen erarbeitet. Um einen Berufswunsch zu entwickeln, bei dem diese individuellen Voraussetzungen mit den Möglichkeiten, die die Berufswelt bietet, übereinstimmen, benötigt eine Person ganz bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, die als „Berufswahlkompetenz“ bezeichnet werden. Der längerfristige Entwicklungsprozess des Berufswunsches kann in einzelne Entwicklungsschritte unterteilt werden, in denen idealerweise ein bestimmtes Niveau von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen erreicht wird. Das ThüBOM-Modell der Berufswahlkompetenz beschreibt vier Phasen, die Jugendliche durchlaufen, bis sie eine wohlbegründete berufsbezogene Entscheidung treffen können. In allen vier Phasen spielen die Dimensionen Wissen, Motivation und aktives Handeln eine Rolle, die jeweils unterschiedlich durch Schule angeregt werden können. Damit verbunden sind die Definition von Bildungsstandards und Lernzielen sowie die Entwicklung von Messverfahren zur Erfassung dieser Standards.

Einstimmen

In der ersten Phase, dem Einstimmen, steht die Bereitschaft zur Planung der eigenen Zukunft im Mittelpunkt. Wenn Jugendliche bereit sind, sich mit der Frage ihrer Berufswahl auseinanderzusetzen, sind sie auch eher dafür aufgeschlossen, sich mit Lernaufgaben, die damit zusammenhängen, intensiver zu beschäftigen. In dieser Phase sollten die Jugendlichen angeregt werden zu erkennen, dass eigene Interessen, Fähigkeiten und Werte für die Zukunftsplanung wichtig sind. Sie sollten grundlegende Fähigkeiten, den eigenen Berufsorientierungsprozess zu gestalten, kennen lernen. Typische Fragen dieser Phase sind: Welche Bedeutung hat Arbeit? Wozu brauche ich einen Beruf? Was kann ich? Was ist mir wichtig für mein Leben?

Erkunden

Die zweite Phase, das Erkunden, ist dadurch gekennzeichnet, dass systematisch Situationen ermöglicht werden, die es erlauben, konkrete Erfahrungen mit der Berufswelt zu machen. In dieser Phase spielen Kompetenzen, Informationen und Erfahrungen zielgerichtet zu suchen, eine zentrale Rolle. Diese gilt es so zu verarbeiten, dass weitere Schritte im Erkundungsprozess möglich werden. Typische Fragen dieser Phase sind: Welche Informationen benötige ich über mich selbst bzw. über spezifische Berufe? Wo erhalte ich diese Informationen? Von wem bekomme ich Unterstützung? Wie kann ich meine Ziele erreichen?

Entscheiden

In der dritten Phase, der Entscheidung, wird die konkrete Planung des Übergangs zunehmend bedeutsam. Dies erfordert von Jugendlichen eine bewusste Entscheidung für einen nachschulischen Bildungsweg. Verbunden damit sind auch bewusste Entscheidungen in der Schulzeit, die Weichen für die Berufswahl in die eine oder die andere Richtung stellen oder die Berufswahl zumindest entscheidend beeinflussen, wie z. B. die Wahl der Kurse mit erhöhtem Anforderungsniveau. Typische Fragen dieser Phase sind: Welche persönlichen Kriterien habe ich für meine Berufswahl? Wie passen meine Fähigkeiten, Neigungen, Ziele, Wünsche und Werte mit den Anforderungen eines bestimmten Berufs zusammen? Welche Informationen fehlen mir, um eine Entscheidung treffen zu können?

Erreichen

Die vierte Phase, das Erreichen, fokussiert darauf, dass sich Schüler neuen Kontexten stellen sowie die im Prozess der schulischen Berufsorientierung erworbenen Selbststeuerungskompetenzen erfolgreich anwenden. Die Jugendlichen erwerben in dieser Phase Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, den Übergang von der Schule in einen Ausbildungsberuf/ein Studium aktiv zu gestalten und mit möglichen Problemen oder Rückschlägen positiv umgehen zu können. Typische Fragen dieser Phase sind: Wie absolviere ich erfolgreich den Bewerbungsprozess? Wie gestalte ich die Zeit zwischen dem Abschluss der Schule und dem Beginn der Ausbildung/des Studiums? Was tue ich, wenn ich meinen Wunschberuf/mein Wunschstudium nicht verwirklichen kann? Wie gehe ich mit Misserfolgen um?

Die weiteren Schritte

Entwicklung von Diagnostikinstrumenten

Zurzeit werden Diagnostikinstrumente entwickelt und an Thüringer Schulen erprobt, die Aufschluss über berufswahlbezogenen Entwicklungsstand von Jugendlichen geben sollen. Mit diesen Informationen können Aktivitäten der Berufsorientierung optimaler auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler abgestimmt werden.

Entwicklung eines Kompetenzvermittlungsmodells

Auf Basis des Berufswahlkompetenzmodells wird ein Kompetenzvermittlungsmodell entwickelt, das Auskunft darüber gibt, wie (formelle und informelle) Lernarrangements gestaltet werden müssen, um zur Förderung der angesprochenen Kompetenzfacetten beitragen zu können und stellt beispielshaft einige Aktivitäten dar.

Entwicklung eines Implementationsmodells

Der dritte Teil des Thüringer Berufsorientierungsmodells, das Implementationsmodell, enthält Materialien und eine Strategie zur Entwicklung der Berufsorientierung in Schulen. Es soll aus Fortbildungseinheiten und Arbeitsmaterialien für Lehrkräfte und Schulleitungen bestehen, um die Berufsorientierung an ihren Schulen eigenständig zu bewerten und ggf. weiterzuentwickeln.

Weitere Informationen

  • www.berufswahlforschung.de
    Die Seite der Arbeits- und Forschungsgruppe Berufliche Entwicklung vom Fachgebiet Psychologie der Universität Erfurt. Die Arbeit an den Projekten des Forschungsschwerpunkts Berufswahlforschung erfolgt als Zusammenarbeit der Lehrstühle für Entwicklungspsychologie und Differentielle Psychologie.

Die Autorinnen und Autoren

Bärbel Kracke und Ernst Hany sind Professoren für Psychologie, Katja Driesel-Lange und Nicola Schindler sind die wissenschaftlichen Projektbearbeiterinnen.